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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hervor.
    Nugua sah trotzdem über ihre Schulter – und wünschte gleich, sie hätte es nicht getan. Das Ungeheuer bohrte sich abermals in den Tunnel aus Knochen, diesmal ohne jede Rücksicht auf das morsche Gebilde. Tatsächlich schien es die Rippen auf der einen Seite nun absichtlich zu streifen, sodass sie unter der Gewalt des Ansturms zerbrachen. Graue Fontänen aus Knochenstaub stiegen auf, folgten den beiden Flüchtenden, während hinter ihnen eine Rippe nach der anderen über der Bestie zerbarst, ohne sie merklich aufzuhalten. Das gesamte Skelett geriet in s W anken, während die Erschütterungen den Xian fast von den Beinen warfen.
    Das Kopfsegment des Tausendfüßlers hatte aufgeholt, war jetzt nur noch zehn Meter hinter ihnen, drei oder vier Rippen entfernt. Jeder Knochen, den es passierte, wurde zu Staub und Bruchstücken zermalmt. Schon neigte sich das Gerippe zur Seite. Die Wirbelsäule löste sich hinter Li und Nugua in Einzelteile auf, fiel auseinander wie Perlen von einer zerrissenen Kette.
    Li stieß sich ab, federte von den berstenden Rippen zur Seite. Nugua schrie, während sie durch die Luft rauschten, fort von dem Staubinferno in ihrem Rücken. Li wandte jetzt den Fede r flug an, die rätselhafte Kraft chinesischer Krieger, mit deren Hilfe sie von Dach zu Dach, über Gewässer und Astspitzen schweben konnten. Aber Li war erschöpft, womöglich verletzt, und seine Flugkraft reichte nicht aus, sie beide in Sicherheit zu tragen. Er wollte die Felswand erreichen, die Nordseite der Schlucht, aber schon nach einem Augenblick wurde klar, dass sie es nicht schaffen würden. Sie sanken tiefer und gerieten ins Trudeln. Nugua drohte abzurutschen, doch da polterten sie schon gemeinsam zu Boden. Sie fiel auf den Xian, wurde weich aufgefangen und hatte trotzdem das Gefühl, sich alle Knochen zu brechen. Aber, nein, nur der Schmerz des Aufpralls. Erleic h tert begriff sie, dass sie keine schweren Verletzungen davongetragen hatte.
    Über ihnen kreischte der Kranich eine Warnung, wollte hera b stoßen und neben ihnen landen, aber Li scheuchte ihn mit einem Wink davon.
    » Warum? «, rief sie nur, als der Vogel abdrehte und wieder an Höhe gewann.
    » Ihm darf nichts geschehen. Du wirst ihn noch brauchen. «
    » Ich? Aber wir – «
    Er packte sie an der Schulter, als sie beide wieder auf den Füßen standen, dick gepudert mit Knochenstaub. » Du hast keine Ahnung, was das für ein Wesen ist, nicht wahr? «
    Sie sah ihn an, blickte dann zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Der Federflug hatte sie ein gutes Stück weit davongetragen, aber der Riesentausendfüßler war schon auf dem Weg hierher. Hinter den Gerippen konnten sie ihn nicht sehen, aber sein Lärmen war unüberhörbar. Jenseits der Gebeine stiegen Staubwolken auf, rasten in gerader Linie auf sie zu. Das Biest wusste genau, wo es sie finden konnte.
    Sie blickte zurück zu Li. » Das ist … kein Tier? «
    Der Xian packte sie am Arm. » Nein. «
    Nugua wurde mitgerissen, wollte selbst laufen, war aber zu schwach, nicht allein von der Anstrengung ihrer Flucht, sondern von dem, was über ihrem Herz prangte wie eine purpurne Spinne: Lotusklaues Handabdruck zog sich enger zusammen, und sekundenlang überkam sie wieder gefährliche Gleichgülti g keit.
    Sie fühlte sich emporgerissen und herumgeschleudert, kla m merte sich instinktiv fest und saß plötzlich wieder auf Lis Rücken, während der Xian rannte und nach einem Ausweg aus der Schlucht Ausschau hielt.
    Aber dann, von einem Schritt zum nächsten, hatte ihre Flucht ein Ende.
    Unmittelbar vor ihnen barst ein Berg aus Drachengebeinen in einer grauen Explosion auseinander. Knochensplitter wurden bis zur Nebeldecke hinaufgeschleudert . Gleich darauf prasselten sie als Hagel wieder herab, spitze, scharfkantige Geschosse, die sich rund um Li und Nugua in den Boden bohrten.
    Das Kopfsegment des Ungeheuers schob sich durch die Stau b schwaden, war jetzt genau vor ihnen. Wie auch immer es ihnen den Weg abgeschnitten hatte – und vermutlich war das in diesem Irrgarten nicht allzu schwer gewesen –, es war schneller, größer und stärker als sie. Nugua wusste ebenso gut wie Li, dass es keinen Zweck mehr hatte davonzulaufen.
    Die blanke Schädelfläche der Bestie wirkte aus der Nähe noch deutlicher wie eine Halbkugel aus Sand, die beliebige Formen bilden konnte. Nugua hatte sie bereits zu Tentakeln werden sehen, dann zu einem tiefen Strudelmaul, mal mit, mal ohne Zähne.
    Jetzt aber, da sich der

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