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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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er sich auf die Beine und schaffte es irgendwie, sich hinter Mondkind auf den Kranich zu ziehen. Sie lag auf dem Bauch, quer über den Vogel hinweg, aber noch wogten und wellten sich die Seidenbänder, und das schien ihm ein Zeichen dafür zu sein, dass noch Leben in ihr war, vielleicht genug, um noch eine Weile länger durchzuhalten. Er gab sich Mühe, nicht den roten Fleck an ihrer Seite anzusehen, geformt wie ein großer Schmetterling, dessen einer Flügel über ihren Rücken reichte, während der andere unter ihrer Brust verschwand. Zahllose Lagen hauchfeiner Seide bedeckten jetzt wieder die Verletzung; sie mochten vielleicht den Blutfluss mindern, nicht aber die Wunde heilen.
    Niccolo ergriff über ihren schmalen Leib hinweg die Zügel des Kranichs und gab ihm mit den Fersen das Signal zum Aufbruch. Der Vogel, selbst noch verstört von dem, was da gerade in seiner unmittelbaren Nähe geschehen war, erhob sich taumelnd in die Luft, schlug erst viel zu schnell, beinahe panisch mit den Schwingen, ehe er zu einem ruhigen, beherrschteren Rhythmus fand.
    Sie stiegen fast in gerader Linie aufwärts, sahen Guo Laos Kranich unter sich kleiner werden, die Blutflecken i m S and, die verblassenden Schatten der Nacht in den Dünentälern.
    Jenseits der nächsten Kuppe erhob sich eine Gestalt aus dem Sand. Staubfontänen rieselten von ihren massigen Schultern herab, als sie sich aufrichtete und den Flüchtenden nachblickte.
    Niccolo war bereits viel zu weit entfernt, um Guo Laos G e sicht zu erkennen, aber er sah noch, wie sich der Koloss in Bewegung setzte, erst behäbig, merklich angeschlagen, dann immer schneller. Mit stampfenden Schritten lief er die Düne hinauf und brachte dabei den halben Hang zum Einsturz. Sandmassen schlitterten ihm als riesige Scholle entgegen, verminderten sein Vorankommen, vermochten ihn aber nicht aufzuhalten. Wenn er erst über die Erhebung hinweg war, würde es nicht mehr lange dauern, eher er seinen Kranich erreichte.
    Bald überflogen Niccolo und Mondkind die Felsenkrone der menschenleeren Karawanserei, aber der Kranich trug sie weiter nach Westen. Wohin? Niccolo wusste es nicht. In ihrem Rücken stieg die Sonne höher, verwandelte das Rotbraun der morgendl i chen Wüste allmählich in das Glutgelb des Tages.
    Noch etwas stieg im Osten empor, ein schwarzer Punkt zw i schen den Dünen. Niccolo sah ihn beim Blick nach hinten, bevor er mit der Sonne verschmolz und in ihrem Gleißen unsichtbar wurde.
    Guo Lao hatte die Verfolgung aufgenommen.
     
    DIE HIMMELSBERGE
     
    M ondkinds Seidenbänder lagen um Niccolos Oberkörper und klammerten sich mit letzter, verzweifelter Kraft an ihm fest.
    Der Xian war noch immer hinter ihnen, ein dunkler Fleck über dem östlichen Horizont. Die Sonne hatte längst ihren höchsten Punkt überschritten und sank nun dem Westen entgegen.
    Zu Niccolos Erstaunen hatte der erschöpfte Kranich während der vergangenen Stunden seine Richtung geändert, ganz allmählich und in einem weiten Bogen. Er flog jetzt nach Norden. Erst hatte Niccolo geglaubt, er weiche einem der Sandstürme aus, die sie immer wieder einmal in der Ferne toben sahen und von denen er nie ganz sicher war, ob nicht Guo Lao sie heraufbeschwor.
    Nicht lange nach ihrer Flucht vor dem Xian hatte Mondkind den Kopf gehoben – nicht in Niccolos Richtung, sondern nach vorn, zum Kopf des Kranichs. Sie hatte ihm etwas zugeraunt in einer Sprache, die Niccolo nicht verstand. Daraufhin war der Vogel auf einer Dünenkuppe gelandet, und Mondkind hatte mühevoll ihre Position gewechselt – sie lag jetzt nicht mehr vor Niccolo, sondern saß hinter ihm, lehnte sich an seinen Rücken und hatte die Hände an seine Hüften gelegt. Der Vogel war sofort wieder abgehoben. Sie hatten kaum eine Minute verloren, und doch war ihnen der Xian merklich näher gekommen.
    Das war jetzt mehrere Stunden her, und Mondkind saß noch immer an seinen Rücken geschmiegt, hatte den Kopf an seine rechte Schulter gelegt und schien zu schlafen.
    Bislang hatte er gezögert, ihr das Schwert zu geben, damit seine Heilkraft auf sie wirken konnte. Zum einen war dies die Klinge, mit der sie sich verletzt hatte. Zum anderen traute er Silberdorn nicht; nach Tieguais Tod hatte die Götterklinge nach Mondkinds Blut gelechzt wie ein lebendes Wesen. Allmählich aber erschien ihm die Chance, sie durch das Schwert zu retten, bedeutender als alle Einwände. Hätte sie es sich ein zweites Mal in den Leib rammen wollen, hätte sie das längst tun können: Das

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