Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
Fingers auf den Fels geworfen. Im Näherkommen aber entdeckte Niccolo, dass es kein Schatten war und auch kein natürlicher Riss im Gestein.
Es war ein Tor, hoch genug, um den Turm einer Burg aufz u nehmen, und dabei keine zwanzig Meter breit.
Mit tränenden Augen sah er sich um. Mondkinds Haar wirbe l te rabenschwarz in ihrem Rücken, die Seidenbänder folgten ihnen als zerfasernder Schweif.
Die Nacht hinter ihnen war leer.
Guo Lao war verschwunden.
DRACHENGOLD
I m ersten Moment glaubte Niccolo, dass er sich irrte. Der Xian konnte nicht einfach fort sein.
Doch nichts regte sich in den Klüften und Kerben zwischen den Bergen. Kein Anzeichen ihres Verfolgers, nicht die leiseste Spur von Leben. Nur Stein, nur Eis, nur nachtschwarze Leere.
Der Kranich schrie auf, so schrill, dass Niccolo zusammenfuhr und wieder nach vorn wirbelte. Zugleich stellte der Vogel seine Schwingen gegen den Wind und geriet ins Taumeln, während er schlagartig langsamer wurde und darüber rapide an Höhe verlor.
Sie waren noch zweihundert Schritt von dem hohen Tor in der Felswand entfernt. Unter ihnen erkannte Niccolo jetzt eine geschlängelte Treppe, die vom schrundigen Talgrund zwischen den Geröllhaufen aufwärts zum Eingang der Grotte führte. Wo sie begann, war von hier aus nicht zu erahnen; ebenso wenig, wer sie einstmals in den Fels geschlagen hatte.
Vor der schwarzen Öffnung schwebte ein heller Punkt in der Luft, tanzte mit gemächlichem Schwingenschlag auf und nieder. Der Xian hielt das Schwert Phönixfeder blankgezogen in der Rechten, seine Linke streichelte sanft den Hals seines Kranichs.
Niccolos Vogel fing sich, bevor sie dem Boden zu nahe ko m men konnten. Er hätte wohl umdrehen und abermals fliehen können, doch Mondkinds letzter Befehl hatte dem Tier zu viel abgefordert. Die irrwitzige Jagd war hier und jetzt zu Ende, eine Fortsetzung ihrer Flucht würde es nicht geben. Guo Lao hatte ihnen den Weg abgeschnitten, weil er von Anfang an gewusst haben musste, welches Ziel sie hatten. Vielleicht hatte er Glück gehabt. Vielleicht kannte er sich auch einfach nur besser in diesen Bergen aus als der Kranich des toten Tieguai.
» Es ist vorbe i «, rief er Niccolo zu, als der Kranich sie ta u melnd zurück auf eine Höhe mit dem Xian brachte . » Ihr hättet uns allen große Mühsal erspart, hättet ihr eure Niederlage früher eingesehen. «
» Du wirst ihr kein Haar krümmen! «, rief Niccolo ihm entg e gen. Die Distanz zwischen ihnen betrug keine dreißig Meter mehr. Nah genug, um selbst im Schatten der Berge die verbiss e nen Züge des Xian zu erkennen.
» Du hast gewusst, dass ich sie nicht gehen lassen kan n «, erwiderte Guo Lao. » Sie hat sieben Xian ermordet. «
» Nicht, weil sie es wollte. «
» Spielt das eine Rolle? Sie ist kein Kind mehr, Junge, und sie hat genug Verstand, um zu begreifen, was sie getan hat. Und dass es nur eine einzige Strafe dafür geben kann. «
Plötzlich regte sich Mondkind in Niccolos Rücken, hob den Kopf und blickte über seine Schulter hinüber zu dem Unsterbl i chen. » Du wirst kein Schwert mehr brauchen, um mich zu töten, Guo Lao! «, rief sie mit neu erwachte r K larheit. Womöglich schenkte ihr Silberdorn tatsächlich Kraft. Oder aber sie schöpfte aus denselben letzten Reserven, die es auch dem Kranich ermöglicht hatten, sie beide hierher zu tragen. » Ich werde sterbe n «, stellte sie mit einer Sachlichkeit fest, die Niccolo einen Schauder über den Rücken jagte, » s o oder so. «
» Das wirst du nich t «, zischte Niccolo über die Schulter.
» In einem zumindest hat er Rech t «, sagte sie. » Es endet jetzt. Es ist vorbei. «
» Nein! « Niccolos Hand zuckte zu seiner Schulter, um Silbe r dorn aus der Scheide zu reißen; aber er hatte nicht bedacht, dass jetzt Mondkind die Waffe trug. Seine Finger griffen ins Leere.
Mit ruhigen, beinahe sanften Schwingenschlägen glitt der Kranich des Xian auf sie zu. » Würdest du sie gehen lassen? «, fragte Guo Lao.
Niccolo zerrte die Zügel herum, damit ihr Kranich den U n sterblichen umrunden konnte, doch der Vogel war zu schwach, um darauf zu reagieren. Er verdrehte nur den Kopf, während sein Flügelschlag aus dem Rhythmus geriet und sie einmal mehr beinahe abgestürzt wären.
» Lass ih n «, bat Mondkind. Eine tiefe Müdigkeit sprach jetzt aus ihrer Stimme, weniger Schwäche als ein Tonfall, der sagte: Ich bin es leid.
Guo Lao war jetzt keine zehn Meter mehr entfernt. Er hob das gewaltige Schwert neben
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