Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
hatte. Nach menschlichem Ermessen schätzte Niccolo ihn auf fünfzig oder fünfundfünfzig, auch wenn ihm klar war, dass Tieguai vermutlich eher fünfhundert oder tausend Jahre alt war. Er hatte langes, verfilztes graues Haar und trug ein Lederstirnband, auf dem rundum menschliche Zähne befestigt waren. Seine Haut war gebräunt und grobporig, an beiden Ohren hingen lange Anhänger aus Federn und Fischgr ä ten; wenn der Wind sie bewegte und über seinen faltigen Hals streichen ließ, klang es, als riebe grobes Papier über Stein.
Seine Kleidung war weit und schlicht, kein Gewand wie Li es trug, sondern leinenfarbene Hosen und ein Wams, das er mit einem Stück Hanfschnur über den Hüften zusammengezurrt hatte. Tieguai war ungemein hager – Niccolo fand, dass er verhungert aussah. Die Zehennägel, die vorn aus seinen ausg e tretenen Sandalen ragten, waren gelb und rissig, und um die Fingernägel an seinen knochigen Händen stand es kaum besser. Um seinen Hals hing eine Kette aus frischen Blüten, die so hoch oben im Gebirge wie Fremdkörper wirkten.
Als Tieguai den Mund öffnete, begriff Niccolo, dass die Zähne am Stirnband seine eigenen waren.
» Li schickt dich also «, stellte der Xian fest. Seine Augen öffneten sich sehr langsam, sahen aber noch immer geradewegs in die Sonne. Die Helligkeit schien ihm nichts auszumachen, so als wäre er es gewohnt, in überirdisches Licht zu blicken. » Ich nehme an, er hat dir etwas für mich mitgegeben. «
Niccolo nickte hastig und zog die schwarze Blüte hervor, die Li ihm beim Abschied am Lavasee überreicht hatte. Der Xian hatte leise hineingeflüstert, so als vertraute er dem kleinen Blume n kelch ein Geheimnis an.
Tieguai nahm die Blüte entgegen, betrachtete sie einen M o ment lang und schüttelte lächelnd den Kopf. Niccolo fürchtete schon, der Xian könne seine Aufrichtigkeit anzweifeln, als Tieguai unverhofft den zahnlosen Mund öffnete und die Blüte hinei n schob. Er kaute sie langsam – offenbar nur mit dem Zahnfleisch –, und nach endlosen Augenblicken seufzte er leise, das Lächeln verschwand, und Sorge breitete sich über seine gegerbten Züge.
» Niccolo «, sagte er leise. » Spini. « Und nach einer Pause: » Niccolo Spini vom Volk der Hohen Lüfte. «
» Ja, Meister Tieguai. « Niccolo fiel beim besten Willen nichts Klügeres ein. » Das bin ich. « Es verunsicherte ihn, dass Li seinem Xian-Bruder mithilfe der Blüte auch seine Herkunft verraten hatte.
Jetzt endlich richtete der Unsterbliche den Blick auf sein Gegenüber. Sekundenlang schien es, als sei ein Abglanz der Sonnenglut in seinen Augen gefangen und lodere flammend weiß darin weiter. Niccolo lief es frostig den Rücken hinunter.
» Du bist also hier, um mich zu warne n «, sagte Tieguai.
» So ist es. «
» Das ist sehr freundlich von dir. «
» Es sind nur noch drei Xian übrig. Ihr selbst, Meister Li und Guo Lao, der Mondkind schon einmal unterlegen ist, damals aber vor ihr fliehen konnte. Li sagt, wenn die letzten Xian getötet werden, dann reißt die Verbindung zwischen der Welt und den Göttern. Dann gibt es nichts mehr, das den Aether aufhalten könnte. «
» Hm m «, machte Tieguai, ohne sich festzulegen, ob er diese Meinung teilte. » Es ist lange her, dass Li und ich uns gesehen haben. Es ist lange her, seit ich überhaupt einem der anderen begegnet bin. Aber die Sonne und die Berge haben mir manches zugeraunt über das, was dort draußen geschieht, und der Himmel klagt so hoch oben im Gebirge manchmal den Winden sein Leid. Lis Botschaft macht vieles davon klarer. Ich verstehe jetzt, was geschieht. «
» Mondkind ist auf dem Weg hierher. Sie kann jeden Tag eintreffen. «
» Erst muss sie mich finden. «
» Das wird si e «, sagte Niccolo überzeugt.
» Du kennst sie recht gut, wie mir scheint. «
» Ich … ja, ich kenne sie. Sie hat mir verraten, dass Ihr ihr nächstes Opfer sein sollt. « Es fiel ihm schwer, das auszuspr e chen. Die Mondkind, die er liebte, schien eine ganz andere zu sein als jene, die den Unsterblichen nach dem Leben trachtete.
» So. Ihr nächstes Opfer. « Er hob die Hand an die Stir n u nd drehte so lange mit Daumen und Zeigefinger einen der Zähne, bis der sich von dem Band löste. Dann hielt er ihn gegen die Sonne, betrachtete ihn mit einem zufriedenen Lächeln und legte ihn vor sich auf den Felsboden . » Was siehst du hier? «, fragte er Niccolo.
» Einen Zahn. «
» Irgendeinen? «
» Euren Zahn? «
Der Xian lachte leise. » Komm
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