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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ein. Ei n gel lender Ra u nenschrei ertönte aus dem Geäst, während mehrere Zweige in Flammen aufgingen und vom Regen wieder gelöscht wurden.
    Da wusste sie, was sie zu tun hatte.
    Noch während sie zurück zu Boden sank, ließ sie ihren Körper mit ausgestrecktem Arm rotieren. Das war die beste Taktik, wenn man den Gegner nicht deutlich ausmachen konnte. Hölzerne Arme und Dornenklauen streckten sich ihr entgegen, aber schon einen Herzschlag später flogen die Raunenglieder abgetrennt davon und lösten sich noch in der Luft in Herbstlaub auf.
    Nach wenigen Augenblicken war die erste Angriffswelle der Raunen zerschlagen. Wisperwind war wieder auf dem Boden gelandet und hörte Feiqing etwas rufen. Warum konnte er nicht still sein? Er würde die anderen auf sich aufmerksam machen. Und dass da noch andere waren, daran hatte sie keinen Zweifel. Sie lauerten oben in den Bäumen, huschten von Ast zu Ast. Die Baumkronen waren ihr Reich, und dort bewegten sie sich am geschicktesten vorwärts. Sie mochte sich täuschen, aber ihr war, als sähe sie Raunen in nahezu allen Bäumen rund um die Felsen, in Buchen und Eichen ebenso wie an den dünnen Stämmen der Bambuspflanzen.
    Statt zu Feiqing zurückzukehren, setzte sie ihren Plan – oder eher ihre vage Hoffnung, wenn sie ganz ehrlich zu sich war – in die Tat um.
    Es donnerte und blitzte ohne Unterlass. Nirgends über dem Wald zeigte sich Helligkeit, die auf ein rasches Ende des Gewitters hoffen ließ. Wisperwind kam das im Augenblick sehr entgegen. Obwohl jeder Donnerschlag sie innerlich erzittern ließ.
    » Versteck dich! «, rief sie Feiqing noch einmal zu, nicht sicher, ob er sie durch all das Getöse um sie herum hören konnte. Das Unwetter tobte und die Raunen in den Bäumen nicht minder; ihre Schreie zeugten von einer barbarischen, grausamen Wut.
    Wisperwind stieß sich erneut vom Boden ab und raste im Federflug zu den Baumkronen hinauf. Statt sich jedoch ins Geäst zu stürzen, wo die Raunen ihr überlegen waren, setzte sie sanft auf den Spitzen der allerhöchsten Äste auf . Dort blieb sie einen Moment lang auf einem Bein stehen wie eine Tänzerin. Nur ihr rechter Fuß berührte einen sanft vibrierenden Zweig. Das linke Bein hatte sie angewinkelt, den einen Arm zur Seite hin ausgestreckt, den anderen mit dem Schwert steil nach oben gereckt.
    Der Federflug war kein einfaches Fliegen, eher ein Tanz auf den Lüften, ein Springen von einem festen Punkt zum nächsten. Dabei konnte sie dürre Zweige ebenso nutzen wie solides Gestein. Beim Federflug spielte ihr Gewicht keine Rolle, sie hob die Anziehung des Bodens auf, wog selbst nicht mehr als eine Schwalbe.
    In der Baumkrone unter ihr entstand wildes Geraschel, als sich mehrere Raunen durchs Geäst zu ihr emporkämpften. Sie war nicht sicher, ob die Kreaturen sie hier oben erreichen konnten – wahrscheinlich boten die dünnen Zweige ihnen zu wenig Halt –, aber darauf kam es gar nicht an.
    Im finsteren Wolkenmeer am Himmel brodelte es. E s f olgte ein knisterndes Netzwerk aus Blitzen, verästelt wie dürre Vogelknochen. Gleich darauf rollte ein Donner heran, explodie r te mit ohrenbetäubender Macht über Wisperwinds Kopf.
    Wisperwinds Konzentration hätte Fels spalten können, war so rasiermesserscharf auf ihr Ziel gerichtet wie die edelste Klinge.
    Der Blitz zuckte herab. Suchte sich mit fauchender Wucht den höchsten Punkt des Waldlands. Fand ihn an der Spitze eines Schwertes, aufgereckt über den Baumkronen.
    Wisperwind war schneller. Sie dachte nicht mehr, folgte nur ihren Instinkten.
    Im Bruchteil eines Herzschlags trug der Federflug sie davon.
    Hinter ihr fauchte der Blitz in die Baumkrone, genau dort, wo sie gerade noch gestanden hatte. Sie hatte gelernt, flinker zu sein als jede Naturgewalt, schneller als die Sturzfluten der großen Wasserfälle, schneller noch als der Blitz. Sie sah den Glutfinger aus sicherer Entfernung einschlagen, beobachtete voller Genu g tuung, wie er den Baum spaltete, das Geäst in Flammen setzte und eine Horde kreischender Raunen zu Laub und Asche zerfetzte.
    Sie landete auf einem anderen Baum, noch weiter entfernt von den Felsen und Feiqing. Abermals stand sie auf Zehenspitzen auf dem höchsten Ast, der normalerweise kaum das Gewicht eines Spatzen getragen hätte, geschweige denn das einer Frau.
    Unter ihr rumorte es. Sie ahnte, dass in weitem Umkrei s a lle Gegner in ihre Richtung kletterten. Raunen waren groß, gewal t tätig und ungeheuer gefährlich, aber sie waren auch dumm.

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