Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
Stirn trägt, oder? «
Niccolo nickte mit einem verlegenen Lächeln. Der Xian verwirrte ihn, aber wenn er ganz ehrlich war, beschäftigten Tieguai und seine Seltsamkeiten ihn nur am Rande. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass er die anbrechende Dämm e rung nach einem zweiten Kranich absuchte. Mondkind würde nicht lange auf sich warten lassen, da war er ganz sicher.
Vielleicht war sie ihm gefolgt. Gut möglich, dass sie vorau s gesehen hatte, wohin er gehen würde. Damit abe r h ätte er sie geradewegs zum Versteck des Unsterblichen geführt. Mit einem Mal schien ihm das ein so nahe liegender Gedanke, dass er Tieguais Blicken auswich, so sehr schämte er sich dafür.
» Wie macht man das – das Wesen der Berge erforschen? «, fragte er, um sich abzulenken.
» Man betrachtet sie, aber eigentlich betrachtet man sich selbst. «
» Aber vom See aus könnt Ihr die Berge kaum sehen. Der Wall rund um das Plateau ist zu hoch. «
» So wenig wie ich die Berge sehen muss, um sie zu betrac h ten, muss ich mich selbst ansehen, um in mein Innerstes zu scha u en. « Tieguai lächelte. » Du kannst die Berge atmen, wenn du nur willst. Du spürst, wie ihre Größe, ihre Bedeutung, ihre Nähe zum Himmel durch deine Fersen aufsteigen und dich vollko m men ausfüllen. «
Bei all dem anderen, das ihm durch den Kopf ging, hätte Niccolo fast vergessen, dass die acht unsterblichen Xian keine allmächtigen Halbgötter waren, sondern vor allem Schüler des Tao, jenes geistigen Weges, den der Weise Laotse ihnen vorgegeben hatte.
Tieguai wandte sich vom Wasser ab und legte Niccolo eine knorrige Hand auf die Schulter. » Manches davon wirst du vielleicht noch verstehen. Aber komm erst mal herein. Du bist sicher hungrig. «
Das Innere der Hütte bot sich dar als Mischung aus kargem Wohnraum und Andachtsort. Neben einem Lager aus Fellen und dem offenen Kamin mit eingehängtem Kochkessel fiel vor allem ein Schrein ins Auge, in dem Tie guai die Statuen der Drei Reinen aufbewahrte. Räucherschalen waren davor verteilt, außerdem Opfergaben wie getrocknete Früchte und einfache Schnitzereien. In der Mitte des Altars stand eine Figur des Jadekaisers, dem Meister des Uranfangs und Herrscher der überirdischen Sphären; er trug eine Haube mit Flügeln und ein Jadezepter. Links neben dem Jadekaiser befand sich der Gott des langen Lebens, der in einer Hand einen Pfirsich trug, in der anderen einen knorrigen Stab; er wurde von einem Hirsch begleitet. Die dritte Figur, auf der rechten Seite des Altars, hielt ein Füllhorn im Arm. Das musste Laotse sein, der Gründervater des Tao.
Tieguai bedeutete Niccolo, sich vor einen niedrigen Tisch zu knien. Bevor er ihm etwas zu essen reichte, entzündete er das Räucherwerk in den Schalen. Bald erfüllten betäubende Düfte die Hütte. In Niccolo breitete sich eine angenehme Gelassenheit aus.
Während er aß, hockte Tieguai ihm gegenüber und beobacht e te ihn. Niccolo war jetzt so entspannt, dass es ihm nichts ausmachte. Er nahm dankbar von den Trockenfrüchten und dem Fladenbrot, die der Xian ihm reichte, und bald war auch die Brühe im Kessel heiß genug. Nach dem langen Gebirgsmarsch kam er allmählich wieder zu Kräften.
» Wenn sie dir gefolgt wär e «, sagte Tieguai so unvermittelt, dass Niccolo sich fast verschluckte, » d ann hättest du sie b e merkt. Sie mag bei einer Xian in die Lehre gegangen sein, aber sie ist nicht unsichtbar. Und der Kranich, auf dem sie reitet, erst recht nicht. Sie sind elegante, kluge Tie re, aber sie sind nicht gerade unauffällig. Erst recht nicht in den Bergen, wo der Himmel bis zum Horizont reicht. «
» Es tut mir lei d «, sagte Niccolo und ließ das Brotstück sinken, von dem er gerade hatte abbeißen wollen.
» Was tut dir leid? «
» Dass ich das Schwert hergebracht habe. Und das Risiko eingegangen bin, Mondkind geradewegs hierherzuführen. Das war dumm. «
Der Xian schüttelte den Kopf. » Du hattest nie eine andere Wahl. «
» Doch, hatte ich. «
» Was mit dir und mit ihr geschehen ist, der Austausch des Chi, die Liebe, die ihr füreinander empfindet … dagegen gibt es kein Mittel. «
» Sie will Euch töten! Und Ihr redet, als hättet Ihr Verständnis für sie. «
» Der Aether zwingt sie zu dem, was sie tut. «
» Li wollte sie trotzdem umbringen. «
» Ich bin nicht mein Bruder Li. Wusstest du, dass er ein großer Feldherr war, bevor er sich dem Tao zugewandt und Tiandi ihm die Unsterblichkeit geschenkt hat? «
Niccolo nickte.
»
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