Das Wuestenhaus
sich auf den Platz gegenüber. Ihre Mundwinkel zuckten leicht; sie schien müde zu sein und erschöpft, als habe sie sich lange auf dieses Treffen vorbereitet. Er versuchte, irgendwelche Anzeichen in ihrem Gesicht zu entdecken, dass er es, wie er vermutete, mit einem Menschen zu tun hatte, der sich lediglich einbildete, eine wichtige Verbindung zu ihm und seinem Leben herstellen zu können. Ihre Augen waren ungewöhnlich groß; die schwarz getuschten Wimpern hoben den warmen Braunton der Iris noch stärker hervor.
Es schien unendlich viel Zeit zwischen den Worten zu vergehen, die sie miteinander wechselten. Als ob
sie ihn zum Schweigen zwingen wollte, zum Warten, Innehalten und Zuhören.
»Also, warum wollen Sie mich sprechen?«
»Sie erinnern sich an mich. Sehen Sie mich genau an.«
Er betrachtete ihr Gesicht. Sie hatte dünne, gezupfte Augenbrauen, die schwarz nachgezogen waren. Ihre Lippen wirkten schmal, obgleich das weniger mit ihrer Form als mit der konzentrierten Art zu tun hatte, mit der die Frau sprach. Er versuchte sich vorzustellen, wie ihr Gesicht aussehen würde, wenn sie lachte oder sich über ein Geschenk freute. Ihre Stimme war leise und angenehm. Jedes ihrer Worte schien sie genau abzuwägen und zu prüfen. Offenbar wollte sie vermeiden, dass der Eindruck einer Provokation entstand; vielmehr gab es in ihr den Versuch, eine bezwingende Überlegenheit herzustellen, eine Nähe zwischen ihnen, die in ihren Augen schon vorhanden war. Er versuchte die Ähnlichkeiten mit Frauen, die er einmal gekannt hatte, in sich zu überprüfen. Es war ausgeschlossen: Die Frau, die ihm einfiel, konnte sich unmöglich so stark verändert haben. »Ich erinnere mich nicht.«
»Meine Eltern sagten noch kurz vor ihrem Tod zu mir, dass Sie ein Mensch seien, der das Herz auf dem rechten Fleck habe. Ich habe lange über diesen Satz nachgedacht. Ich glaube mittlerweile, dass er kein Kompliment ist, im Gegenteil, er ist im Grunde genommen eine ganz sachliche Beschreibung: Ihr Herz ist irgendwo verborgen, jedenfalls für mich. Ich habe
in den vergangenen Jahren immer wieder Ihr Gesicht vor mir gesehen.«
»Aus welchem Grund? Woher soll ich Sie kennen?«
Die Frau schwieg.
Draußen auf der Straße hielt nun ein Bus, aus dem mehrere Fahrgäste ausstiegen. Als der Bus wieder anfuhr, begann ein leichter Regen auf den Asphalt zu tropfen.
Er nahm einen Schluck Kaffee aus der Tasse, in der kaum noch etwas drin war. Die Art, wie diese Frau ihn ansah, hatte etwas Vertrautes und Unheimliches zugleich. Sie sprach so ruhig und bestimmt, dass es ihm schwerfiel, in ihr die Verrückte zu sehen, als die sie sich in ihren Äußerungen ausgab.
»Ich wollte Ihnen erzählen, was passiert ist, aber ich wusste immer, ich schaffe es nicht. Ich werde nie so sprechen können wie Sie. Und ich will es auch nicht.«
Sie zog aus ihrer Tasche ein Heft, auf dem oben sein Name stand. »Ich möchte, dass Sie dies lesen.«
»Nein, das werde ich nicht. Bestimmt nicht.« Obwohl er neugierig war und einen inneren Zwang verspürte, wenigstens einen Blick in die Seiten zu werfen, schob er ihr das Heft zurück. »Sie können nicht ernsthaft glauben, dass ich jetzt in diesem Heft lese, um den Grund für Ihren Anruf herauszufinden. Entweder Sie sagen mir, was Sie von mir wollen, oder wir trinken einfach gemeinsam einen Kaffee, und Sie können stolz darauf sein, dass Sie es geschafft haben, mich aus meinem Büro herauszulocken.«
»Meine Eltern haben sich auch von Ihnen überzeugen lassen. Bitte.«
Er sah nun, wie schwer es ihr fiel, auf ihrem Wunsch zu bestehen.
Er nahm lustlos das Heft und schlug die erste Seite auf.
Fast mit kalligrafischer Deutlichkeit und Ordnung waren die kleinen schwarzen Buchstaben sauber auf unsichtbare Linien gesetzt worden. Keine Ausstreichungen, keine auffälligen Abweichungen waren in den Zeilen zu erkennen. Ein ruhiger, langer Fluss von Worten. Wie lange hatte sie an dem Text in diesem Heft geschrieben?
»Sie müssen nicht alles lesen. Ich will nur sehen, ob Sie sich erinnern.«
»Passen Sie auf, ich bestelle mir jetzt noch eine Tasse Kaffee, dabei werde ich den Anfang lesen, und dann verabschieden wir uns voneinander. Einverstanden? Das ist das Einzige, was ich Ihnen anbieten kann.«
Sie nickte und sah in Richtung des Tresens. Es schien ihr wichtig zu sein, in seiner Nähe zu sein, während er las, was sie geschrieben hatte, obwohl nichts Lauerndes und Beobachtendes an ihr zu spüren war, nur die erleichterte Geduld eines
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