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Das Wuestenhaus

Titel: Das Wuestenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Wolfram
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Menschen, der endlich einen lange gehegten Plan in die Tat umgesetzt hat.
    Warum bin ich nur hergekommen, dachte er, und nahm sich das Heft vor.

2
    Das Heft
    Als ich Sie zum ersten Mal auf der Insel gesehen habe, dachte ich, dass Sie ein Mensch sind, der ein anderes Leben führt als andere, ein besonderes, für Menschen wie mich unerreichbares Leben.
    Es ist etwas in Ihrem Blick, in der Art und Weise, wie Sie Dinge beobachten, das mich an einen Fährtensucher erinnert, wie es sie in den Filmen meiner Kindheit gab, jemand, der die geheimen Orte einer Landschaft kennt und vor nichts zurückschreckt. Meine Mutter sagte damals im Hotel über Sie: Seine Augen passen nicht zu seinem Gesicht. Ja, Ihre Augen sind merkwürdig sanft. Zugleich verbreiten Sie diese Atmosphäre der absoluten Gegenwart um sich, diese selbstverständliche Verachtung von Zeit. Wenn Sie im Hotel vor dem Zeitungsständer neben dem Tresen standen und feststellten, dass die vorhandenen Ausgaben der ausländischen Zeitungen schon einen Tag alt waren, dann holten Sie aus Ihrer Jackentasche dieses abgenutzte gelbe Reclamheftchen, bestellten sich einen Drink und setzten sich mit dieser niemals gespielt wirkenden Gelassenheit auf die Couch in die
Lobby, um zu lesen, als ob dieser abrupte Wechsel zwischen der Welt der Zeitungsneuigkeiten und jener anderen, in der es um Dinge außerhalb der aktuellen Zeit ging, für Sie das Allerselbstverständlichste wäre. Sie schienen alles zu bemerken, was um Sie herum geschah. Selbst bei den Mahlzeiten hielten Sie sofort inne, wenn meine Eltern aufhörten, zu essen. Natürlich, aus Höflichkeit, aber vor allem, weil Sie es unangenehm fanden, wenn die anderen Sie beim Weiteressen beobachteten.
    Dazu kommt Ihr Lachen. Ein leises, abwartendes Lachen.
    Selbst ein misslungener Scherz, ein schlechter Witz, wie ihn mein Vater manchmal am Strand erzählte, rief bei Ihnen als Reaktion kein peinliches Schweigen oder rasches Überspielen der Situation hervor, sondern dieses freundliche, beruhigende Lächeln, das alles Peinliche sofort verschwinden ließ. So vieles hat mir an Ihnen gefallen.
    Ich glaube, Sie lieben es, dass die anderen in Ihnen etwas Besonderes sehen - denjenigen, der auftaucht, den Raum mit dem Zauber seiner Person ganz ausfüllt und dann wieder verschwindet, nichts zurücklassend als diese neugierigen Fragen, mit denen sich die Zurückbleibenden, die ein weniger aufregendes Leben führen, liebend gern herumschlagen. Mit siebzehn habe ich das natürlich nur vage empfunden und hätte es niemals so ausdrücken können, aber in den Jahren, die seit dem Tod meiner Eltern auf der Insel vergangen sind, ist es mir klar geworden, mit eisiger Deutlichkeit.
Er sah auf. Die Frau hatte ihn während des Lesens einige Male beobachtet, jedoch ohne aufdringlich zu sein oder ihn zu stören. Im Gegenteil, er hatte das Gefühl, sie würde bereit sein, jede mögliche Unterbrechung seines Lesens zu verhindern. Wie alt mochte sie sein? Fünfundzwanzig, dreißig? Ihre Sprache wirkte wie die eines sehr viel älteren Menschen. Warum sprach sie ihn direkt an in ihren Aufzeichnungen, begann mit Einschätzungen seines Charakters, die aus ihm einen geheimnisvollen Fremden machten? Und welche Insel meinte sie? Gleichzeitig waren da Details, die wirklich zu ihm gehörten: zum Beispiel das Lesen der Reclamheftchen auf Reisen. Er war auf so vielen Inseln gewesen, Rhodos im letzten Jahr für eine Reportage über einen dort im Exil lebenden pakistanischen Dichter, auf Madeira wegen eines Konzerts von Patti Smith, in Irland, um über die Literaturzeitschrift eines rebellischen Arbeitslosenvereins zu schreiben, dann seine Reisen für das afrikanische Griot-Buch …
    »Welche Insel meinen Sie?«
    Er wollte das Heft eben zuklappen, als er in ihren Augen etwas entdeckte, das eine vage Erinnerung in ihm wachrief. Vielleicht musste er weiter zurückgehen …

    Über die Insel habe ich lange nachgedacht, über Sie und diese verdammte Reise, aber eigentlich beginnt alles viel früher, in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin und das meinen Eltern so viel bedeutet hat.
    Das Haus steht in einer kleinen Stadt in der Nähe Freiburgs, nur eine Autostunde von der französischen Grenze entfernt. Es wird bald verkauft werden. Seine gespenstische Leere war nicht mehr zu ertragen. Es war sechs Jahre lang ein Totenhaus. So habe ich es jedenfalls genannt. Ein leer stehendes, einsames Haus, das ich lange nicht mehr betreten habe. Der Bruder meines Vaters - Bernhard, der

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