Das Wuestenhaus
wie: Der Zweite Weltkrieg begann 1914. Wenn ich könnte, würde ich sofort aufhören und etwas ganz anderes machen.«
Mein Vater unterrichtete Geschichte und Sport an seiner Schule. Er sagte gern im Scherz, er sei nur wegen meiner Mutter Lehrer geworden. Meine Mutter war Englischlehrerin. Beide waren sehr sportlich; sie haben sich in einem Handballverein kennengelernt. Es gibt noch eine Fotografie von ihnen aus dieser Zeit. Mein Vater, schlaksig, mit langen Haaren, trägt viel zu enge Jeans und einen Vollbart, was ihn merkwürdig aussehen lässt. Meine Mutter dagegen hatte sich in all den Jahren nur wenig verändert. Sie war eine große, stolze Frau, hatte lange, dunkelblonde Haare und einen kleinen Leberfleck oberhalb des rechten Mundwinkels, der meinem Vater, wie er immer wieder betonte, von Anfang an sehr an ihr gefiel.
Mein Vater sprach nicht gern über seinen Beruf. Wenn wir Gäste hatten, vermied er das Thema Schule. Besonders wenn sein Bruder Bernhard zu Besuch kam, betonte er immer, dass er eigentlich kein akademischer Mensch sei. Mit Bernhard konnte er seine Leidenschaft fürs Bauen und Handwerken ausleben; bei ihm spielte er den handfesten Arbeiter, der die einfachen Dinge des Lebens zu schätzen weiß. Dabei stimmte das nicht. Mein Vater saß am liebsten in seinem Zimmer oder im Garten, füllte Seite über Seite linierten Heftpapiers mit seinen Geschichten oder las Bücher. Stundenlang konnte er am Schreibtisch sitzen und schreiben. Er benutzte so einen breiten schwarzen Parker-Füller, dessen Tinte sich weich in den Buchstaben ausbreitete. Ich sehe meinen Vater noch vor mir, wie er mit den Fingern manchmal leise auf der Tischplatte trommelte, angestrengt atmend auf das Papier starrte. »Ich wünschte, ich könnte all das so aufschreiben, wie ich es in mir habe«, sagte er einmal. Ich glaube, er hat seinen Beruf wirklich als Qual empfunden. Wäre es nach ihm gegangen, wäre er durch die Welt gereist, hätte, wie in seiner Jugendzeit, auf dem Land auf irgendwelchen Höfen gearbeitet und hätte seinen vielen, verborgenen Träumen nachgehangen. Er hätte gern so gelebt wie Sie!
Er hatte in unserem Haus ein großes helles Zimmer nur für sich, in dem neben den vollgestopften Bücherwänden ein Schrank stand, in dessen Mitte ein Glasfenster eingelassen war, durch das man auf einige Gegenstände sehen konnte, die meinem Vater
sehr wichtig waren. Ich weiß, er hat Ihnen auf der Insel davon erzählt. Besonders an die zerbrechliche Figur des kleinen liegenden Christus aus Holz erinnere ich mich, die er Ihnen so ausführlich geschildert hat. Er hatte die Figur in einem spanischen Bergdorf geschenkt bekommen - von einem Mann, der aus Wut auf die katholische Kirche und ihre Einmischung in politische Dinge seinen Glauben aufgegeben hatte. »Die Figur hat diesem Mann einmal viel bedeutet. Dann war sie nur noch ein Symbol der Erinnerung für ihn, das macht sie doch zu etwas Besonderem, findest du nicht?«
Der Christus befand sich etwas erhöht auf einem schmalen Glasbord in der Vitrine. Sein Blick erinnerte mich immer an das Gesicht eines Jungen, der eine Rolle spielen muss, die ihm nicht besonders gefällt.
»Das ist mein besonderer Schatz«, sagte mein Vater, wenn er den Christus aus der Vitrine holte, auf seinen Handteller platzierte und mir hinhielt. Die Augen der Figur waren halb geöffnet wie bei einem Träumenden, der gerade aus dem Schlaf gerufen wird. Ursprünglich, sagte mein Vater, hätte zu dieser Figur noch ein Engel gehört, der den Kopf des Christus gehalten hatte; den Engel habe die Figur aber irgendwann verloren, vielleicht während des Krieges, vielleicht später, aus ganz gewöhnlichen Gründen. Der fehlende Körper samt den Händen des Engels, die den frei schwebenden Kopf des Christus mit dem länglichen, erschöpften Gesicht im Unsichtbaren hielten, sei seine »Katze«, sagte mein Vater mit einem fürsorglichen Lachen. Ich liebte diese Figur sehr, und manchmal, abends im
Dunkeln, wenn ich in das Zimmer meines Vaters kam, glaubte ich das Gesicht des verschwundenen Engels in der dämmernden Vitrine vor mir zu sehen.
Außerdem befanden sich in dem Schrank noch zwei Federkiele, mit denen der Urgroßvater irgendwelche Protestbriefe an den Bürgermeister seines Dorfes geschrieben hatte, und ein Foto, das meine Eltern und mich vor dem Freiburger Münster zeigte. Daneben lagen, auf einem braunen Keramikteller, Steine, die mein Vater aus verschiedenen Ländern mitgebracht hatte. Manche von ihnen
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