Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
Vom Netzwerk:
der Betrieb neben unserem Lagerhaus geöffnet wurde, verschwand die lange Reihe der Wartenden in einer Dampfwolke, die sich träge nach draußen wälzte. Abwartend blieb der Wolkenschleier zunächst in der President Steynstraat hängen. Dann fiel er auf einmal in Nebelschwaden auseinander. Träge stiegen sie auf, bis sie über den Schornsteinen zu sehen waren. Schließlich führte der Südwestwind sie eilig mit sich fort.
    Als erste betrat immer juffrouw Varekamp die Wäscherei. Meistens wartete sie in ihrem Hauskittel, über dem sie je nach Wetterlage eine oder zwei gewöhnliche Schürzen trug, schon von halb sechs an, obgleich die Familie Varekamp neben uns in der Cronjestraat wohnte und sie nur an unserem Wohn- und Lagerhaus entlangzugehen brauchte, um zur Wäscherei zu kommen.
    Mit der Familie Varekamp teilten wir uns, sparsam wie wir waren, eine Zeitung, und ich hatte die Aufgabe, die Zeitung kurz nach dem Abendessen zu holen. Aus dem senkrechten schmalen Schlitz des Briefkastens hingen die beiden Seilenden, mit denen die Tür aufgezogen werden konnte. Hatte man die Haustür geöffnet, schlug einem ein Geruch entgegen, den ich nirgendwo sonst gerochen habe, eine bedrohliche, säuerliche Fischluft, von der einem ganz übel wurde, noch bevor man den Flur betreten hatte.
    Im Wohnzimmer war es fast immer dunkel. Elektrisches Licht - das brannte bei Familie Varekamp so gut wie nie, und es ist mir ein Rätsel, wie sie in den Herbst- und Wintermonaten die Zeitung haben lesen können.
    Etwa einmal im Monat traf ich alle Varekamps - Eltern, vier Kinder -, über diverse Lehnstühle verstreut, leise stöhnend an. Ihre Köpfe ruhten, weit nach hinten gebeugt, auf den Rückenlehnen: Sie hatten alle sechs auf einmal Kopfschmerzen. Auf ihren Stirnen lag, um den Schmerz zu lindern, ein nasser Waschlappen. Von mir erwartete man, daß ich die sechs Waschlappen wieder frisch machte. Bei juffrouw Varekamp beginnend, sammelte ich die sechs Waschlappen ein. In der Küche ließ ich kaltes Wasser darüber laufen, wrang sie halb aus und drapierte sie, wieder bei juffrouw Varekamp beginnend, vorsichtig auf den leidenden Köpfen. Ohne etwas zu sagen, schnappte ich mir die Zeitung und rannte aus dem Haus.
    Hatten sie keine Kopfschmerzen, saßen die sechs Varekamps, wenn ich das Wohnzimmer betrat, maulend im Dunkeln um den Eßtisch herum. Vater Varekamp trug dann stets eine Mütze mit Ohrenklappen.
    »So, holst du jetzt schon die Zeitung?« brummte Varekamp mißmutig. »Ich hab kaum Zeit gehabt, um reinzugucken!«
    »Da steht sowieso nie was drin«, sagte juffrouw Varekamp, »nimm sie in Gottes Namen nur schnell mit!« »Nein, ich will sie noch lesen«, sagte der älteste Sohn.
    »Und ich auch, und ich auch, und ich auch!« riefen die drei anderen Kinder.
    »Mund halten, das ist ja wie in der Judenschule!« schrie juffrouw Varekamp, während sie die Träger ihrer Schürze hochschob.
    Sie lief zum Kaminsims, wo die Zeitung noch ordentlich zusammengelegt auf der Bibel ruhte, nahm sie, kam auf mich zu, drückte sie mir in die Hand und sagte: »Weg damit! Nachrichten sind Ärger, Politik ist Schmutz!«
    Mit der Zeitung unterm Arm trotzte ich dem säuerlichen Geruch auf dem Flur. Wieder auf der Straße, holte ich tief Luft.
    Manchmal brannte bei den Varekamps über dem Eßtisch die mit gerafften Falten aufwendig drapierte Lampe. Die Varekamps saßen vergnügt um den Tisch herum. Mit uralten Fischermessern hämmerten die vier Kinder auf den Rand ihrer Abendbrotteller. Vater Varekamp brüllte: »Nur herbei, nur herbei an die Festtafel!«
    Mit einer seiner riesigen Hände hielt er ein Schwarzbrot fest und strich Margarine auf die Schnittfläche. Danach schnitt er eine Scheibe Brot ab. So oft ich das mit angesehen habe, jedesmal war ich wieder verblüfft. Es schien mir viel logischer und einfacher, zuerst eine Scheibe Brot abzuschneiden, sie auf den Teller zu legen und dann Margarine darauf zu schmieren, statt das ganze Brot mit einer Hand auf Schulterhöhe festzuhalten und mit der anderen Hand Margarine darauf zu schmieren, so daß ich einmal stolz bemerkte: »Bei uns zu Hause schneiden wir zuerst die Brotscheibe ab. Dann schmieren wir, das ist viel einfacher.«
    »Hör dir diesen Naseweis an«, sagte Varekamp, »so, so, das ist viel einfacher? Und was tut ihr, wenn so ein Butterbrot schon abgeschnitten ist und es dann keiner mehr will? Dann sitzt du ganz schön da mit der abgeschnittenen Brotscheibe, die sofort steinalt wird. Dann kannst du sie

Weitere Kostenlose Bücher