Das Wüten der ganzen Welt
unsern Kutter nicht versenkt hätte, säßet ihr vielleicht gar nicht hier. Dann würdet ihr vielleicht irgendwo sitzen, wo ihr Blutwurst fressen müßtet.«
Beim Anblick der Triefnasen von vier Varekamp-Kindern, die mit ihren Migränegesichtern auf ihre blutwurstlosen Brotteller starrten, konnte ich mir nicht verkneifen zu denken, daß es vielleicht gar nicht so schlimm gewesen wäre, wenn sie nicht geboren wären. Vater Varekamp dachte offenbar anders darüber, denn er fügte vergnügt hinzu: »Schiff zerronnen, Frau und Kind gewonnen, der Krieg hat wirklich nicht nur Schlechtes mit sich gebracht!«
»Das kannst du jetzt so sagen«, sagte juffrouw Varekamp, »aber ich glaube, daß Willem Vroombout aus Trauer über sein Schiff Krebs bekommen hat.«
»Des einen Brot ist des andern Tod«, sagte Varekamp philosophisch.
Und seinem Bruder ist es auch nicht allzugut gegangen nach...«
»Wie kommst du denn darauf?« sagte Varekamp.
»Dieser Knilch, dieser Arend, das war überhaupt kein Fahrensmann, der war verflixt froh darüber daß sie ihn danach bei der Polizei haben wollten, das hatte er schon gewollt, bevor er über seine Holzschuhe pinkeln konnte. Ich kapier nur nicht, warum sie ihm nicht sofort als Schupo hier im Hoofd ein Dienstfahrrad unter den Hintern geschoben haben. Hier kannte er doch jeden, hier wohnte seine Mutter... nee, das kapier ich nicht, was hatte er bloß da in Rotterdam zu suchen? Er selber behauptet, das hätte zu seiner Ausbildung gehört. Als ob man ausgebildet werden müßte, um juut zu sein. Mich würde man dazu nicht auszubilden brauchen, zieh mir so eine Uniform an, gib mir ein Dienstfahrrad, und ich bin Schupo. Aber er hat den ganzen Krieg da gehockt. Na ja, heutzutage ist er hier bei uns Streifenpolizist, und wir haben es gut mit ihm getroffen, wirklich gut... er ist wie ein Vater zu uns.« »Es gibt genug Leute, die anders drüber denken«, sagte juffrouw Varekamp, während sie die wieder heruntergerutschten Träger ihrer Schürze stramm über die Schultern zog.
»Das sind all die Blutwurstesser, Mutti«, sagte Vater Varekamp. Streng blickte er in die Runde, stellte das Brot auf den Tisch, sagte: »Jeder genug gehabt?«
Er erwartete keine Antwort. Er faltete seine Hände, schloß die Augen und brüllte ein Dankgebet:
»O Großer Schiffer im Weltenall, wir danken fürs Brot im Tränental, vor Hochmut hüte unsre H erzen, beschütze uns vor Schmach und Schmerzen. In Demut preisen wir deinen Namen, führ' uns zu dir ins Licht, Herr, Amen!«
Sparsamkeit
»Durch Sparsamkeit«, sagte mein Vater mindestens einmal die Woche, »ist noch nie jemand arm geworden.«
»Du sagst es«, sagte meine Mutter dann, »an dem Geld, das man ausgibt, hat man nur ein einziges Mal seine Freude!«
Deshalb gaben sie nie Geld aus. Deshalb sagten sie warnend: »Kost' Geld«, wenn es etwas gab, das ein normaler Mensch vielleicht hätte anschaffen wollen. Deshalb wurden die Lumpen, die mein Vater in dem Hafenstädtchen einsammelte, immer, wie meine Mutter sagte, »mit einer Taschenlampe nachgesehen«, um festzustellen, ob brauchbare Hosen, Röcke, Oberhemden oder passende Unterwäsche darunter waren. Übrigens wurde für dieses »Nachsehen« niemals wirklich eine Taschenlampe verwendet; meine Mutter besah sich die Lumpen vorn am Fenster im Wohnzimmer.
»Was die Leute heutzutage doch alles so wegwerfen!« pflegte sie zu sagen und legte einen Rock oder ein Oberhemd beiseite. Auch meine Kleider rekrutierten sich aus den Lumpen. Bestimmt habe ich abgetragene Sachen meiner Klassenkameraden zur Schule angehabt. Vielleicht sahen mich die gassies auch deshalb schief an. Doch nie hat ein gassie gesagt: »He, du hast meine alte Hose an!« Kam das, weil ich schon damals sehr groß für mein Alter war und möglicherweise immer Kleidung von gassies trug, die eine Klasse über mir waren? Das ist nicht unwahrscheinlich, aber weil niemand sagte: »Du hast meinen alten Pullover an«, bin ich ständig mit dem Gefühl herumgelaufen, daß die gassies absichtlich ihren Mund hielten. Sie sahen und wußten es, aber redeten nicht. Erst das war das Beängstigende. Sie waren wie Gott, der auch niemals etwas von sich hören ließ, dich aber auf dem Wege - oder im Schwimmbad - zu töten suchte.
Daß er mich wirklich zu töten suchte, mußte offenbar immer und immer wieder von meinem Vater bestätigt werden, wenn er im Lagerhaus regelmäßig liebkosend über die Deckel der beiden Särge strich, die in der dunkelsten Ecke auf
Weitere Kostenlose Bücher