Das Wunder von Treviso
Antonio. Er durfte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Er durfte es einfach nicht.
«Ist es ferner richtig», fuhr der Anwalt fort, «dass Sie, Don Antonio, dem Schnitzmeister Salvatore Tarlo die Anweisung gaben, die Madonnenstatue derart zu präparieren, dass sie bei Aktivierung eines Mechanismus beginnen würde, blutige Tränen zu weinen, und dass diese Tränen dem Betrachter ein göttliches Wunder vorgaukeln sollten, sodass Treviso fortan zu einer Pilgerstätte für Christen aus aller Welt würde, die in der weinenden Madonna ein göttliches Zeichen sehen sollten? Ist es nicht so, dass Sie dieses
Wunder
bewusst herbeigeführthaben, um damit Ihre Gemeinde, die Pilger und nicht zuletzt die gesamte Christenheit zu täuschen?» Plötzlich begann der Saal zu kochen. Von den hinteren Bänken aus prasselten Buhrufe und Verwünschungen auf den Anwalt nieder, und Don Antonios Herz begann zu rasen, während der Tumult Don Ignazio und Francesco de Renzi als Einzige vollkommen unbeeindruckt zu lassen schien.
«Nein, das ist nicht wahr!», entgegnete Don Antonio. «Ich habe nichts dergleichen getan.»
«Wehr dich, Junge, na los!», keifte der Geist Don Ignazios.
«Gottverdammter Lügner!», brüllten die Trevisaner dem Anwalt zu, und der Richter bemühte sich vergeblich, den Saal zum Schweigen zu bringen.
«Ist es nicht so, dass Sie, Don Antonio, Gott und alle Anwesenden täuschen wollten?», rief der Anwalt Longhis. «Denn die Tränen dieser Madonna», und damit richtete er erneut den Finger auf das seltsame Zwillingspärchen, «sind nichts anderes als billiger spanischer Rotwein!»
Nach dieser Äußerung des castellesischen Anwalts ging eine Woge hämischen Gelächters über die Trevisaner nieder, denn nicht nur hatte man offenbar das Wunder der weinenden Madonna von Treviso künstlich herbeigeführt – an und für sich schon ein Skandal –, die göttlichen Tränen bestanden ausgerechnet aus
spanischem
Importwein. Der Lärmpegel im Saal steigerte sich bis zur Schmerzgrenze.
«Wehr dich, du Memme!», dröhnte Don Ignazio.
Don Antonios Herz galoppierte, der Angstschweiß kam in immer größeren Mengen auf seiner Stirn zum Vorschein, und er hielt sich krampfhaft an der Lehne seines Stuhles fest, um nicht ohnmächtig zu werden.
«Luft», flüsterte Don Antonio, «ich brauche Luft.»
«Und ist es nicht so, dass Sie, Don Antonio, die Entdeckung des Schwindels durch den vatikanischen Abgesandten Francesco de Renzi befürchten mussten und daher den Schnitzmeister Salvatore Tarlo beauftragten, eine weitere Madonnenstatue anzufertigen, der echten täuschend ähnlich, die Sie beide dann gegen das Original austauschten, als sich Ihnen dazu die Gelegenheit bot? So wurde es nämlich unmöglich, den inneren Mechanismus der Madonna bei einer Röntgenuntersuchung, vorgenommen im Januar dieses Jahres in der Arztpraxis von Doktor Lorenzo, zu entdecken. Ist es so gewesen, Don Antonio?»
Heiß, es war heiß hier drinnen. Woher wussten die das alles?
«Rien ne va plu!», schrie Don Ignazio. «Tot! Tot! Du bist erledigt!»
«Ich … ich … nein, ich …», sagte Don Antonio, dann brach er auf seinem Stuhl zusammen. Das Letzte, was er noch sah, als er zum Fenster blickte, war der immer kleiner werdende Geist Don Ignazios, der ihm freundlich zuwinkte, als wollte er sich verabschieden, und sich dann nach und nach verflüchtigte. Dann wurde es dunkel.
23
Es brachte ihn nicht um, und nach einigen Wochen war man auch in Treviso so weit, dass sich der Zorn in Mitleid verwandelte und man begann, seinem Pfarrer zu verzeihen. Der Herzinfarkt, den der arme Don Antonio im Gerichtssaal erlitten hatte, war somit auch für etwas gut.
Tatsächlich zog Mario Fratelli seine Klage gegen Emmanuele Benito Longhi zurück, denn es hatte keinen Sinn mehr, für die Wahrheit zu kämpfen, wenn die Lüge so offensichtlich war. Die Geldbußen, die der Richter über die anwesenden Trevisaner wegen Missachtung des Gerichts letztlich verhängt hatte, zahlte man stillschweigend aus der Gemeindekasse.
Die Castellesen feierten dagegen recht ausgelassen ihren Sieg. Doch als nach Bekanntwerden des Skandals die Buchungen der Pilger ausblieben, bemerkten auch sie, dass sie sich im Grunde ins eigene Fleisch geschnitten hatten. Ohne das Wunder von Treviso ging der gerade erst entflammte Pilgertourismus in der Region gegen null, und in Castello della Libertà blieben die Hotels und Restaurants bis auf ein paar Besuche der üblichen Mussolini-Touristen
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