Das Wunder von Treviso
19. Jahrhunderts durchblätterte. Es ging Bürgermeister Mario um die Ehre, seine, die Trevisos, und nicht zuletzt war dies immerhin auch ein Kampf zwischen Gott und den Faschisten. Da war es doch ganz klar, wer gewinnen musste.
Woher aber dieses außerordentliche Medieninteresse an dem Fall rührte, konnte eigentlich niemand sagen. Natürlich bot sich hier nach außen eine spannende Auseinandersetzung zwischen konservativen Christen und erzreaktionären Faschisten der interessierten Öffentlichkeit an, aber was die Leute wirklich hinter dem Ofen hervorlockte, war eine Art Spielerleidenschaft.Echt oder unecht? Wunder oder Fälschung? Göttliches Zeichen oder menschlicher Abgrund? Wer schwierige Zeiten durchmacht, der sucht oft nach einfachen Antworten, und hier war die Antwort besonders einfach, denn es gab nur ein Ja oder ein Nein, und man hatte immerhin eine fünfzigprozentige Chance, auf der richtigen Seite zu stehen. Don Antonio wusste, dass sich Treviso gerade einen Strick drehte, und dennoch brachte er es nicht über sich, die fertige Schlinge um den eigenen Hals zu legen, um damit die Trevisaner zu retten. Der Prozess würde stattfinden.
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Liebster Giorgio,
habe mich in Budapest schrecklich erkältet, kuriere mich nun mit Wodka in Krakau.
Verschnupfte Grüße, T.
PS: Nächste Woche fliege ich von Warschau aus zurück nach Finnland. Habe genug von Europa im Schneeregen. Schick mir doch auch mal eine Karte. Meine Adresse lautet …
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Der Prozess um die weinende Madonna von Treviso begann an einem Frühlingstag im April. Die beiden Kontrahenten Mario Fratelli und Emmanuele Benito Longhi saßen in ihren besten Anzügen im Gerichtssaal des Bezirksgerichts Padua und brannten darauf, es dem jeweils anderen heimzuzahlen. In den hinteren Zuschauerreihen verfolgten die beiden verfeindeten Lager der Trevisaner und der Castellesen gespannt den Prozess, während vor der Tür des Gerichtssaales der Zeuge Don Antonio nervös auf und ab ging. Sosehr ihn Salvatore Tarlo und seine Schwester, die ebenfalls als Zeugen geladen waren, zu beruhigen suchten, es half nichts. Also ließen sie ihn auf dem Flur des Bezirksgerichts die Rillen zwischen den Linoleumbeschlägen zählen. Bei Nummer dreiundzwanzig rannte Don Antonio, der unablässig auf den Boden geblickt hatte und leise Flüche murmelte, die wie Stoßgebete klangen, gegen ein schwarzes Ornat. Als er aufblickte, wünschte er sich, der Linoleumboden möge sich bei Rille dreiundzwanzig unter ihm öffnen und ihn verschlingen. Don Antonio starrte in die braunen Augen Francesco de Renzis.
Er hätte gerne etwas gesagt, anstatt de Renzi einfach nur anzuglotzen wie das Reh den Jäger, aber Don Antonio fiel bei aller Liebe nichts ein. De Renzi, dem die Begegnung mindestens ebenso unangenehm war, schien auch nicht gerade darauf aus, höfliche Konversationzu betreiben. Stattdessen nickte er Don Antonio kurz zu und setzte sich, Maria und Salvatore Tarlo ignorierend, auf eine der umstehenden Bänke, griff in seine Aktentasche, kramte ein recht abgegriffenes Exemplar von Sallusts
De coniuratione Catilinae
hervor und begann zu lesen.
Um sich zu beruhigen, suchte Don Antonio kurz den Blick seiner Schwester, aber die war gerade mit einem distinguierten Herren mit schwarzem Kinnbart ins Gespräch vertieft, und mit Salvatore Tarlo wollte er ganz einfach nicht sprechen, sosehr sich ihm dieser auch durch aufmunternde Blicke und Gesten anbot. Als Don Antonio endlich seine zornigen Augen auf den armen Salvatore richtete, verschwand der kleinlaut auf der Toilette und kehrte erst wieder, als man ihn in den Zeugenstand rief. Als Nächstes war der Herr mit Kinnbart an der Reihe, dann Francesco de Renzi. Maria wurde mitgeteilt, dass man sie nicht mehr benötige und sie gehen dürfe, und dann kam die Reihe an ihn. Don Antonio betrat den Gerichtssaal wie ein Schaf, das darauf hoffte, man würde sich allein mit seinem Fell zufriedengeben, ohne ihm die Kehle durchzuschneiden. Tatsächlich aber erwartete er, dass man ihn schlachtete.
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Als er seine persönlichen Daten genannt hatte, wanderte Don Antonios Blick durch den überfüllten Gerichtssaal. Dort saßen Mario Fratelli, der ihm aufmerksam zuzwinkerte und die Finger zum Siegeszeichen hob, seine Schwester, die sich in die hinterste Reihe gezwängt hatte und seinen Blick mit Mitleid in den Augen quittierte, und da saß Francesco de Renzi, die Arme vor der Brust gefaltet, verschlossen, abwartend. Was hatte der dem Richter wohl
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