Das Wunder von Treviso
gemeinsam haben: Wir sitzen gerne nackt im Nebel herum.
Küsse, Tarja
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Es war der 6. Februar, an dem Salvatore Tarlo das leise Gefühl beschlich, einen Fehler begangen zu haben. Allerdings dauerte es bis zum 8. Februar, bis ihm klarwurde, worin genau dieser Fehler bestand. Als er es endlich herausfand, war es schon zu spät. Und so sah Salvatore keine Notwendigkeit, Don Antonio schon wieder mit einer schlechten Nachricht aufzusuchen. Nicht zuletzt wollte er auch seine eigenen Nerven schonen, denneinen weiteren Zornesausbruch seines Freundes hätte er schwerlich ertragen. Daher erfuhr Don Antonio an diesem 8. Februar nicht, dass Salvatore versehentlich die weinende Madonna per Expresspost an seinen Kunden in der Hauptstadt versandt hatte, ohne den Mechanismus im Inneren der Holzfigur zuvor auszuschalten beziehungsweise zu entfernen.
An diesem 8. Februar sah alles danach aus, als ob es ein arbeitsreiches Frühjahr für das kleine Dorf werden sollte. Im Büro des Bürgermeisters waren nicht weniger als dreiundzwanzig Anfragen von Pilgergruppen aus ganz Europa eingegangen, die in den kommenden Wochen ihre Reise nach Treviso antreten wollten. Auch die Führungen durch die Ortschaft mit anschließendem Kurzvortrag über die Römerstraße boomten geradezu, und Luisa, Don Antonios Nichte, musste bereits drei Gruppen auf den Spätsommer vertrösten, weil ihre Kapazitäten erschöpft waren. Ähnliches galt für die Buchungslage in Massimos Pension, und Vito hatte seufzend eine extragroße Palette mit Sakralartikeln aus buntem Plastik für das Supermarktsortiment bestellen müssen.
Der Zustrom nach Treviso war ungebrochen, und das, obwohl bei der weinenden Madonna ganz offensichtlich keine Tränen mehr flossen. Das schien die Pilger aber überhaupt nicht zu stören. Allein die Tatsache, dass sie einmal geweint hatte, machte dieses von der Kirche unautorisierte Wunder zum Touristenmagneten der ganzen Region. Dabei suchten die wenigsten Pilger in Treviso nach spiritueller Erleuchtung oder gar so etwas wie Heilungvon Krankheiten, Ehescheidungen und sonstigen Traumata. Sie wollten ihre Pilgerreise vielmehr als eine Art Event genießen: Kommt nach Treviso, werft einen Blick auf die weinende Madonna, und dann feiert, was das Zeug hält!
Vielleicht war es leichtsinnig zu glauben, dass dies immer so weitergehen würde, doch im Moment konnte sich Don Antonio nicht vorstellen, dass noch etwas zwischen ihn und die Madonna kommen konnte. Stattdessen freute er sich an dem Zustrom der Gläubigen, die in Treviso offenbar das fanden, was sie suchten – was auch immer das war.
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Seit er sein Amt als Bürgermeister von Castello della Libertà hatte niederlegen müssen, verbrachte Emmanuele Benito Longhi sehr viel Zeit damit, über mögliche Rachepläne nachzudenken, um es Don Antonio, seiner Schwester und dem gesamten Ort Treviso und ihrer Madonna heimzuzahlen. Die andere Hälfte des Tages las er Zeitung. Für gewöhnlich begann er mit der
Gazzetta dello Sport
, vertiefte sich danach in ein regionales Anzeigenblatt, löste einige kurze Zahlenrätsel und griff zu guter Letzt zu einer der drei bis vier Tageszeitungen, die ihm seine Frau täglich am Kiosk kaufte, damit er beschäftigt war.
Heute war dies nicht anders. Nachdem der ehemalige Bürgermeister Longhi also die
Gazzetta dello Sport
durchhatte und bereits am dritten Sudoku gescheitert war, griff er widerwillig zur
Repubblica
, und da war sie, auf Seite fünfzehn, die Kurzmeldung, die ihm ganz unverhofft den Ball zuspielte, den er für einen perfekten Schachzug gegen Treviso brauchte. Unter der Rubrik Vermischtes stand unter der Überschrift
Verwunderlich, aber doch kein Wunder
zu lesen:
Rom. Eine Madonnenstatue im Privatbesitz eines anonymen Kunstsammlers begann vor wenigen Tagen, blutrote Tränen zu weinen. Die Madonna ist eine Kopie der berühmten weinenden Madonna von Treviso (Venetien). Nach eingehender Untersuchung wurde festgestellt, dass die Statue über einen verborgenen Mechanismus verfügt, der aus noch ungeklärter Ursache plötzlich in Gang gesetzt worden war und der für die Tränenflut verantwortlich ist. Ein erneutes Wunder kann damit ausgeschlossen werden.
Mit einem Schlag war dem ehemaligen Bürgermeister von Castello klar, dass hierin die Chance auf seine Rehabilitierung lag. Er, Emmanuele Benito Longhi, würde dafür sorgen, dass das sogenannte Wunder und die ganze Pilgerei ihr Ende fänden und dass Treviso wieder den Platz einnehmen
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