Das Wunder von Treviso
Vicenza aufstellen konnte, denn in Treviso würde er als Geschäftsmann keinen Fuß mehr auf den Boden kriegen. Was wohl seine Standnachbarin dazu sagen würde, die Gemüsefrau, die ihm am Ende des Markttages immer einen Sack mit Artischocken, Tomaten und Petersilie schenkte und die dafür nie auch nur eine Gegenleistung erwartet hatte?
«Woran denkst du?», fragte Don Antonio.
«An nichts Besonderes», sagte Salvatore, «nur an Artischocken und was die wohl in Vicenza kosten.»
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Selbstverständlich hatte es der ganze Ort immer gewusst. Nein, überrascht hatte es in der Tat niemanden. Man hatte schon so allerhand gehört. Und wenn manes nicht gehört hatte, so hatte man es immerhin laut gedacht. Die aus Treviso waren doch schon immer so gewesen. Und man war durchaus der Ansicht, dass dies einmal ein Ende haben musste. Wie war noch gleich die Frage?
Castello della Libertà war im medialen Ausnahmezustand angelangt. Von
Il Gazzettino
bis
La Sicilia
schienen sich in den Pilgerquartieren überhaupt nur noch Journalisten und keine Pilger mehr herumzutreiben. Wo immer ein Castellese hintrat, wartete bereits ein Reporter darauf, was er zu sagen hatte, und die Castellesen hatten eine ganze Menge zu sagen, vorwiegend Unschönes über ihre Nachbarn in Treviso. Diese revanchierten sich dann auch gleich mit Interviews im italienischen Fernsehen, wie zum Beispiel Bürgermeister Mario Fratelli, der den Prozess gegen den Exbürgermeister von Castello angestrengt hatte, um zu beweisen, dass die weinende Madonna von Treviso keine Fälschung sei. Zu diesem Zweck hatte Mario hinter seinem nunmehr sehr aufgeräumt wirkenden Schreibtisch Platz genommen und sprach deutlich und mit energischer Gestik in die Kamera von RAI 2 , während ihm ein feines Schweißrinnsal über das linke Auge lief. Dennoch fand man in Treviso, dass der Bürgermeister seine Sache sehr gut machte, und bestätigte ihm auf Nachfrage gerne, er habe im Fernsehen würdevoll und respekteinflößend gewirkt, während Emmanuele Benito Longhi wie ein Irrer herumgeturnt sei und nichts als Lügen verbreitet habe.
Dies entsprach durchaus nicht der Wahrheit. Longhi hatte sich nicht wie ein Irrer benommen, sondern so gewirkt, als wisse er, was er da tue, und als hätte er keine Skrupel, dieses Wissen auch einzusetzen. Longhi bedeutete für Treviso eine Gefahr, denn seine Aussagen kamen der Wahrheit weit näher, als Bürgermeister Mario oder irgendein anderer Trevisaner sich das träumen ließ – mit Ausnahme von Don Antonio, seiner Schwester Maria, ihrem Verlobten Luigi und natürlich Salvatore Tarlo, der schon mal still und leise bei der Stadtverwaltung in Vicenza um die Genehmigung eines Marktstandes für Holzschnitzwerk angesucht hatte.
Don Antonio war von einem Zustand der Verzweiflung, gefolgt von Agonie, nun in eine gottergebene Stimmung gefallen, in der er sich wieder auf seine Tugenden als Priester besann, mit dem feinen Unterschied, dass er sich vorwiegend um sein eigenes Seelenheil kümmerte, und nicht um das seiner Gemeindemitglieder, denn dieser Haufen unverbesserlicher Optimisten war sich ganz sicher, den Prozess gewinnen zu können. So hatte zum Beispiel Massimo in seiner Trattoria ein kleines Wettbüro eingerichtet, das sich einzig mit der Frage beschäftigte, wie viele Tage der Prozess dauern würde. Dass Treviso gewinnen würde, stand selbstverständlich außer Frage. Die meisten Menschen, die an der Wette teilnahmen, waren Journalisten. Sie hatten jetzt die Doppelzimmer mit Waschbecken und WC überm Gang in Massimos Pension gemietet, um live vom Prozess berichten zu können, der schon ineiner Woche beginnen sollte. Die überwiegende Mehrheit tippte auf eine Prozessdauer von drei Tagen. Nur Giorgio, der missgelaunte und liebeskummerkranke Neffe des Bürgermeisters, äußerte sich lautstark, er würde seinen Hintern nicht darauf verwetten, dass Treviso den Prozess gewinnt, und forderte eine Quote für den Fall, dass es «zum Äußersten» käme. «Nicht meinen Arsch», schrie Giorgio, «ich verwette hier nicht meinen Arsch! Die gewinnen, wir verlieren. So war das immer, und so bleibt das auch immer!» Massimo erteilte ihm daraufhin Lokalverbot.
Mario war von seinem Neffen natürlich enttäuscht, aber im Grunde viel zu beschäftigt, um sich in diesen Tagen seiner Familie widmen zu können. Er gab Interviews, betrank sich gemeinschaftlich mit seinem Anwalt und betrieb so etwas wie Recherche, indem er ein Buch über Madonnenerscheinungen in Norditalien im
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