Das Wunder von Treviso
fortan leer. Longhi, der sich bei einer Neuwahl Chancen auf das Bürgermeisteramt ausgerechnet hatte, wurde nahegelegt, sich nicht mehr allzu oft allein außer Haus blickenzulassen, wenigstens in den kommenden Monaten.
Am härtesten traf es natürlich die Trevisaner. Massimobaute die Fremdenzimmer nach einem Jahr in einen Lagerraum und ein großes Spielzimmer für seine Enkelkinder um und verlor nie wieder ein Wort über seinen ursprünglichen Plan, eines Tages ein Hotel in Treviso zu errichten. Der Blumenladen blieb dagegen bestehen, denn auch wenn die Pilger ausblieben, so waren die Trevisaner doch recht froh über die verbesserte Nahversorgung vor Ort, wozu auch Vitos nach wie vor beachtliches Supermarktsortiment gehörte, das nun allerdings um einige Artikel aus Asien gekürzt worden war. Wer ihn auf die kreischbunten Plastikmadonnen ansprach, der musste damit rechnen, des Ladens verwiesen zu werden.
Worüber man in ganz Treviso allerdings lange rätselte, war die Frage, woher der Anwalt der Castellesen all diese Informationen gehabt hatte, denn der vatikanische Abgesandte, Francesco de Renzi, hatte sich vor Gericht so gut wie jeder konkreten Aussage zum Geschehen in Treviso verweigert. Dabei hatte er auf seine kirchliche Autorität gepocht, die ihre Untersuchungsergebnisse der Öffentlichkeit erst nach eingehender Prüfung präsentieren wolle, was bis zum heutigen Tage nicht geschehen war. Und obwohl die Aussage des römischen Kunstkenners mit dem Kinnbart deutlich gemacht hatte, warum die Tränen der Madonna kein Wunder waren, erklärte sie doch nicht, woher der Anwalt von dem Tausch der Statuen gewusst hätte. Man hatte Salvatore Tarlo im Verdacht, der sich seit neuestem im Dorf rar machte und nun angeblich recht gute Geschäfte in Vicenza betrieb.
Doch Salvatore war, bei aller Mitschuld, nicht derjenige, der geplaudert hatte. Sosehr ihn diese Erkenntnis auch traf, es war Don Antonio höchstselbst, der das Geheimnis um die Madonna von Treviso der Welt offenbart hatte – auf eine etwas verquere und noch dazu alkoholische Art und Weise.
Bei einem der zahlreichen Interviews, die der Pfarrer vor Prozessbeginn gegeben hatte, war er von einem der Journalisten gefragt worden, was sich seiner Meinung nach für die Menschen in Treviso seit dem Wunder geändert habe, und Don Antonio hatte mit dem ihm üblichen Zynismus geantwortet, die Bürger von Treviso hätten dank der örtlichen Enoteca nun das Privileg, einen besonders schlechten spanischen Rioja mit dem Etikett «Tränen der Muttergottes» käuflich zu erweben, eine Errungenschaft, auf die man unter keinen Umständen verzichten wolle. Der Anwalt Longhis hatte das Interview gelesen und eins und eins zusammengezählt. Wenn aus den Augen der Madonna schlechter spanischer Rioja floss – wie aus dem chemischen Gutachten eines Sachverständigen hervorgegangen war – und in der Enoteca in Treviso schlechter spanischer Rioja angeboten wurde, dann konnte dies nur bedeuten, dass die Madonna mit schlechtem spanischen Rioja aus der Enoteca in Treviso befüllt worden war. Es hatte ihn nur wenig Mühe gekostet herauszufinden, wer vor dem 15. September ebendiesen Wein in Treviso bezogen hatte. In den Auftragsbüchern der Enoteca gab es bei «Span. Rioja» nur einen Verweis auf die KirchengemeindeTrevisos. Folglich musste der Pfarrer etwas mit der Präparierung der Madonna zu tun gehabt haben. Das Adressetikett auf der kleinen Pumpe im Inneren der Statue hatte dann den endgültigen Hinweis auf ein Zusammenwirken zwischen Schnitzmeister und Pfarrer ergeben. Und die neue Fassade der Arztpraxis von Doktor Lorenzo war ohnehin für jeden sichtbar, der an ihr vorbeiging.
Don Antonio, dem Bischof Santini im Krankenhaus einen kurzen Besuch abgestattet hatte, kehrte nicht mehr nach Treviso zurück, stattdessen beauftragte er seine Schwester damit, zwei Koffer mit seinen persönlichen Sachen zu packen und an die Adresse eines Benediktinerinnenklosters in der Nähe von Palermo zu schicken.
«Es wird Ihnen dort gefallen», hatte Bischof Santini zu Don Antonio gesagt. «Es ist ausgesprochen ruhig dort, und man kann von einem der umliegenden Hügel aus sogar bis zum Meer sehen.»
Don Antonio reiste an einem heißen Mittwochnachmittag im Juni. Seine Schwester Maria und Luigi begleiteten ihn bis nach Sizilien, wo sie ihre Hochzeitsreise antraten.
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In Treviso ging alles seinen gewohnten Gang, so als hätte es das Wunder der weinenden Madonna nie gegeben. Nach wie vor stritten
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