Das zarte Gift des Morgens
Büschen heraus. Maria fuhr erschrocken zusammen, drehte sich um . . . und beugte sich blitzschnell über den Kofferraum. Im nächsten Moment hatte sie einen schweren Schraubenschlüssel in der Hand. Mit dem Fuß stieß sie Auroras Körper beiseite und ging auf Anfissa los – schweigend, verzweifelt, zu allem entschlossen.
»Halt! Miliz! Werfen Sie das Eisen weg!«, rief Katja und trat ebenfalls heraus. »Weg damit, oder ich schieße! Gehen Sie von dem Wagen fort. Weiter. Noch weiter . . . Die Hände hinter den Kopf. Drehen Sie sich um!«
Langsam trat Maria zur Seite, sie starrte dabei Katja und Anfissa mit einem hasserfüllten Blick voll finsterer Entschlossenheit an. Dann standen sie sich gegenüber, regungslos, und beobachteten einander. Es war totenstill.
Da quietschten Bremsen. Hinter dem Zaun hielt ein Auto. Katja konnte es nicht sehen, aber sie wusste – das war Kolossow, der gerade noch rechtzeitig eingetroffen war.
Kolossow drückte und stieß mit der Schulter gegen die verschlossene Gartenpforte. Katja machte eine Kopfbewegung, und Anfissa rannte so schnell, wie ihre Beine sie trugen, zur Pforte, um den Riegel zurückzuschieben. Aber sie hatten Maria unterschätzt. Die stürzte im selben Moment zum Wagen, riss die Tür auf und warf sich hinters Steuer. Der Motor heulte auf wie ein verwundetes Tier, und der Toyota machte einen Satz nach vorn. Man hörte das Krachen von zerbrechenden Brettern und das Knirschen von splitterndem Glas. Der Wagen schoss durch das Tor der alten Datscha, fuhr noch etwa dreißig Meter in Schlangenlinien und blieb dann mit zerbeulter Motorhaube im Straßengraben stecken. Als Kolossow und Katja herbeieilten, versuchte Maria gerade mit schmerzverzerrtem Gesicht, sich aus dem Auto zu befreien. Ihre Arme und ihr Gesicht waren voller Blut. Von der Straße her war bereits das Heulen von Polizeisirenen zu hören.
Anfissa kniete neben der auf dem Boden liegenden Aurora.
»Sie lebt, sie atmet!«, schrie sie. »Schnell einen Arzt! Sie ist verletzt. . . Natascha, Nataschenka, hörst du mich? Einen Arzt. . . Wie gut, dass wir noch rechtzeitig gekommen sind . . . Sie lebt!«
33
Der Herbst war gekommen, und mit ihm begann auch die Voruntersuchung. Es regnete ununterbrochen. Die Ahornblätter färbten sich purpurn, und in der Mordsache »Al-Maghrib« wurde schon der fünfte Aktenordner abgeheftet. Insgeheim war Katja manchmal richtig entsetzt – wie viele Seiten Papier waren schon beschrieben worden! Wer sollte das nur alles lesen . . .
Ende Oktober wurde Aurora aus dem Krankenhaus entlassen. Auf ihrer Stirn war vom Schlag mit dem metallenen Lampenfuß eine Narbe zurückgeblieben. Wie Katja von Kolossow erfuhr, wurde sie von niemand anderem als ihrem Ex-Mann Dmitri Gussarow aus dem Krankenhaus abgeholt. Er nahm auch die Kinder zu sich und fuhr dann mit der ganzen Familie nach Österreich, wo er Gerüchten zufolge Aurora eine kosmetische Operation in einer bekannten Klinik für plastische Chirurgie bezahlte.
Die Söhne von Maria Potechina besuchten ihre Mutter in all den Monaten, in denen sie in Untersuchungshaft saß, kein einziges Mal. Der jüngere ging weiterhin im Ausland zur Schule. Der ältere war demonstrativ zu seinem Vater gezogen. Wenn man den Berichten der Sportzeitungen glauben durfte, war Gleb Potechin der beste Stürmer der Junioren-Auswahlmannschaft.
Alle nötigen Dinge und Lebensmittel wurden Maria von dem Anwalt, den Poljakow engagiert hatte, ins Gefängnis gebracht. Der Chefkoch des »Al-Maghrib« selbst, den die Ereignisse schwer erschüttert hatten, beantragte beim Untersuchungsführer nur einmal ein Wiedersehen mit seiner ehemaligen Chefin. Seinem Antrag wurde entsprochen, und das Treffen kam zustande. Während des ganzen kurzen Besuchs, so berichtete später die Wache, weinte Maria. Danach bekam sie in der Zelle einen hysterischen Anfall.
Ungefähr zur selben Zeit, als Aurora aus dem Krankenhaus entlassen wurde, heiratete Poljakow Sascha Maslowa. Nach der Zeremonie auf dem Standesamt fand die Trauung in einer kleinen Kirche an den Reinen Teichen statt. Wie man sich erzählte, war es eine sehr bescheidene Hochzeit, und die Braut war schwanger.
Katja hatte sich im Lauf der Zeit die Aufzeichnungen vieler Vernehmungen angehört. Trotzdem war ihr längst noch nicht alles klar.
Anfang November wurde es kalt. Die ersten Schneeflocken fielen aus dunkelblauen Wolken, tanzten und wirbelten in der Luft, die schon nach dem nahen Winter duftete. Einmal besuchte Katja
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