Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
wurde eines Nachmittags durch hastige Schritte im Korridor unterbrochen. »Mutter Oberin!«, rief Sor Rosario, als sie um die Ecke fegte. Ihre Röcke waren von der Arbeit am Morgen noch gerafft und der Perlenstrang um ihre Taille baumelte wild hin und her, während sie durch den Kreuzgang zum Büro der Oberin rannte. »Mutter Oberin!«, rief auch die alte Nonne, die hinter ihr herhastete. Ihre schrille Stimme kippte vor Aufregung und Atemlosigkeit. »Der Schlüssel! Sie müssen kommen, sofort!«
An ihrem Schreibtisch fuhr die Oberin hoch und rückte ihren Schleier zurecht. Sie war wieder einmal über den Geschäftsbüchern des Klosters eingenickt. Das Kloster brauchte dringend Geld. Das Dach über dem überfüllten Schlafsaal hing durch und Lebensmittel waren knapp und wurden von Tag zu Tag teurer. Die Versorgung der Kinder, die durch den Hurrikan zu Waisen geworden waren, brauchte ihre gesamten finanziellen Mittel auf. Oft gingen die Kleinen hungrig zu Bett. Es gab nicht genug Decken und obwohl sich die Kinder zu dritt oder viert in ein Bett drängten, um sich gegenseitig zu wärmen, zitterten sie nachts vor Kälte. Und was Kleidung und Sandalen anging … Sorge und Verzweiflung ließen die Oberin immer schläfrig werden. Bei ihrem Nickerchen war ihr die Brille heruntergerutscht, doch nun schob sie sie wieder hoch und schimpfte: »Sor Rosario! Sor María Gracia! Die Siesta! Es besteht keinerlei Anlass zu rennen ! Sehr unschicklich!« Die Oberin gab sich alle Mühe, streng zu klingen, doch insgeheim fragte sie sich, woher die beiden so viel Energie nahmen. »Welchen Schlüssel meinen Sie?«
Sor María Gracia war derart außer Atem, dass sie kein Wort hervorbrachte, doch Sor Rosario japste: »Matrosen, zwei … im Besuchsraum … der Schlüssel … das locutio aufschließen!«
Die Oberin war schockiert. »Der Schlüssel? Das locutio aufschließen? Sor Rosario! Dieses Tor schließen wir nie auf! Das locutio symbolisiert unsere Trennung von der Welt und –«
»Mutter Oberin«, meldete sich Sor María Gracia zu Wort, »die Welt hat uns eine Gabe geschickt!«
Sor Rosario nickte ernst. Ihre Augen waren weit aufgerissen. »Ich habe Sor María Gracia gesagt, dass es genau so ist, wie die Vision es versprochen hat«, setzte sie begeistert an.
»Die Vision – also wirklich!«, fuhr die Oberin sie an und dachte bei sich, dass Sor Rosario ein leichtgläubiges Bauernmädchen war und Sor María Gracia nicht mehr alle Sinne beisammenhatte. Dann lehnte sich Sor María Gracia vor und flüsterte der Oberin etwas ins Ohr.
Die Oberin zuckte zurück und starrte sie an. »Zwei Matrosen mit einem weiteren Kind, das unsere Medaille um den Hals trägt? Und die Pförtnerin meint, ich soll mich darum kümmern?« Sie dachte an die Vision, von der Sor Rosario berichtet hatte. Zumindest soweit es den Wirbelsturm betraf, stimmte ihre Warnung.
»Die Pförtnerin irrt sich, ganz bestimmt!« Die Pförtnerin war alt, doch auf ihre Augen war Verlass. »Nach dreihundert Jahren ist die Wahrscheinlichkeit, dass es unsere Medaille ist, ziemlich gering. Trotzdem …«
Mit erstaunlich raschem Schritt machte sich die Oberin auf den Weg in den Besuchsraum. Dabei tastete sie nach dem schweren Schlüsselbund, das an ihrem Gürtel hing. Die beiden Nonnen hasteten hinter ihr her. Als sie im Besuchsraum ankamen, hatte die Oberin bereits einen langen rostigen gusseisernen Schlüssel herausgesucht, der mit einem Kreuz und dem Symbol eines Vogels mit gegabeltem Schwanz verziert war. Sie hatte Mühe, ihn ins Schloss zu stecken.
Auf der anderen Seite des Tores traten zwei junge Matrosen von einem Fuß auf den anderen, während sich hinter dem locutio die Nonnen sammelten. Das Gitter, das in das Tor eingelassen war, erzitterte, so als würde jemand ungeduldig daran rütteln. Eine Frauenstimme murmelte etwas, das wie ein ausgesprochen weltlicher Fluch klang. Der Matrose, der ein kleines unterernährtes, daumenlutschendes Kind auf dem Arm trug, sah seinen Gefährten an und zog die Augenbrauen hoch. Der andere zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Die Nonnen benahmen sich offenbar etwas seltsam.
Die beiden Matrosen wussten, dass sie das Richtige taten. Sie hatten das Kind zu einem Nebeneingang des Klosters gebracht, wo es seit Hunderten von Jahren eine vergitterte Luke gab, durch die ausgesetzte Babys und Kinder der Pförtnerin auf der anderen Seite übergeben wurden.
Sie hatten an die Luke geklopft, die Pförtnerin war gekommen. »Nimm ihr erst
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