Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
am Telefon – sie seien Südliche Baptisten, wie der Mann am anderen Ende der Leitung betonte. Das sagte ihr nicht viel. Die Oberin hatte nicht die geringste Ahnung, wie sich eine protestantische Sekte von der anderen unterschied, sie hatte nur gehört, dass ihre Missionare Taschenbuchausgaben der Bibel und Kaugummi verteilten und dass die Taufe von Konvertiten in riesigen Massenveranstaltungen in Flüssen stattfand. Der Mann von Christian Outreach erklärte ihr, dass ihre Kirchen in den USA einen Spendenaufruf für die Opfer der Mano-del-Diablo -Katastrophe gestartet hätten. Ob die Oberin erlauben würde, dass ein Fotograf ins Kloster käme, um Waisen für den Aufruf abzulichten? Ihre Organisation Christian Outreach würde einen Teil der Spenden an das Kloster weiterleiten, versprach er.
Die Oberin stimmte zu – die Geldnot im Kloster war inzwischen so groß, dass jeden Tag zwei der Laienschwestern zum Betteln auf einen zentralen Platz in der Stadt geschickt wurden. Und dem Fotografen, den die Missionsgesellschaft schickte, fiel die hübsche und fotogene Isabelita mit ihren großen sehnsüchtigen Augen sofort auf. Sie wurde zum Gesicht des Spendenaufrufs.
Die Südlichen Baptisten spendeten großzügig und zwei Monate später fiel die Oberin fast in Ohnmacht, als sie die Geldanweisung aus den Vereinigten Staaten bekam. Das Geld würde ausreichen, die Medizinvorräte aufzufüllen, das ganze Kloster ein Jahr lang mit Lebensmitteln und jedes Kind mit Decken, Schuhen und Kleidung zu versorgen, das Dach des Schlafsaals zu reparieren und das Schulzimmer auszustatten. Selbst Spielzeug würden sie kaufen können. Und dann gab es die Ankündigung, noch mehr Geld zu schicken. Wenn es Gott gefiel, durch die Baptisten Wunder zu vollbringen, so dachte sie sich, dann war es nicht an ihr, Einwände zu erheben. Vielmehr sah sie ihre heimliche Überzeugung bestätigt, dass es auf der Welt genug Probleme gab und man nicht auch noch darauf bestehen musste, dass alle Menschen Gott auf dieselbe Weise anbeteten. Vor Seinem Thron war genug Platz für alle, die Ihm dienten – für Baptisten und Hindus, Siebenten-Tags-Adventisten, Muslime und Juden ebenso wie für Katholiken. Die Tatsache, dass sie mit dieser Überzeugung sehr weit von den Lehren der Kirche entfernt war, machte es der Oberin bisweilen schwer, ihre Gedanken in einen erkennbaren doktrinären Rahmen einzupassen. Es gelang ihr mehr schlecht als recht und der Bischopf wäre entsetzt, wenn er davon wüsste, doch das änderte nichts an ihrer Überzeugung.
Dann rief der Bezirkschef von Christian Outreach ein weiteres Mal an. Diesmal kam er mit der Neuigkeit, dass ein amerikanisches Ehepaar Isabelas Foto bei einer Spendenaktion in der Kirche gesehen hatte und so sehr von ihr eingenommen war, dass sie sie adoptieren wollten. Er erklärte, dass sich die Baptisten unmittelbar nach dem Mano del Diablo in Washington für ihr »Adoptiere eine Waise«-Projekt stark gemacht hatten. Daraufhin hatte die US-Regierung die Einwanderungsgesetze vorübergehend soweit gelockert, dass solche Blitzadoptionen möglich wurden. Die Oberin bat um Bedenkzeit.
Die Nonnen kamen zu einem Konvent zusammen, um darüber zu entscheiden. Die Oberin warnte: »Weder Isabelita noch die Medaille noch die Chronik sind hier in Sicherheit. Die Marxisten putschen die Bauern mit den alten Geschichten von den Kirchen auf, die das Gold der Spanier horten, während das Volk hungert. Und außerdem ist der Bischof wild entschlossen, dass sich der Vatikan mit der Sache befassen soll. Der Vatikan hat einen offiziellen Ermittler benannt und wenn sie erfahren, dass wir auch die Chronik gefunden haben …«
»Dann schicken sie die Inquisition«, murmelte Sor Rosario.
Ohne auf diese aufrührerische Bemerkung einzugehen, fuhr die Oberin fort: »Wo könnten wir unsere Medaille und die Chronik besser verstecken als bei Isabelita in einer ganz gewöhnlichen Kleinstadt in Amerika, wo sie vollkommen unauffällig unter Protestanten aufwächst? Bei den Adoptionspapieren kann ich eine falsche Spur legen, sodass es schwierig sein dürfte, sie ausfindig zu machen. Und dann ist eine Adoption nach Amerika eine Chance für eines unserer Waisenkinder, wie sie sich nur selten bietet.«
Dem konnten die Nonnen nicht widersprechen. Wenn sich ein Waisenmädchen nicht berufen fühlte, ins Kloster einzutreten – und das war schon seit vielen Jahren nicht mehr vorgekommen –, konnten die Nonnen nicht viel tun, um ihm seinen weiteren Lebensweg
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