Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
schloss die Augen, umklammerte das Pult in ihrer Inbrunst und rief jeden Heiligen einzeln mit den Worten an: »Bitte, bitte, weise uns den Weg zu der Chronik.«
Sie erschrak, als sich unter ihrem Klammergriff ein Seitenteil des Pultes plötzlich lockerte. Die Oberin hielt mitten im Gebet inne. Sie beugte sich zur Seite und betrachtete das Holzstück unter ihrer Hand. Sie drückte fester und mit einem Klicken sprang das Seitenteil wie eine Tür auf. Ein Geheimfach? Die Oberin schob vorsichtig eine Hand in das, was eigentlich ein Hohlraum hätte sein sollen. Doch hinter der Seitenwand ging es nicht weiter. Dann wurde ihr klar, dass darin etwas festgeklemmt war, etwas Unförmiges, das in groben Stoff eingewickelt war.
Sie brauchte beide Hände, um es durch die Öffnung zu zerren. Die Oberin wagte kaum zu atmen, als sie eine Lage aus geölter Wolle und eine weitere Lage aus ausgetrockneter Seide entfernte. Und dann – da war sie: ein altes, in Leder gebundenes Buch, ziemlich groß, wie ein Hauptbuch, mit einer schwarz angelaufenen Goldschließe und dem kaum erkennbaren Umriss eines Vogels mit langem, gegabeltem Schwanz. Das Buch bestand aus Pergamentseiten, dünn wie Seidenpapier, die mit einer sauberen und klaren Schrift beschrieben waren. Die Tinte hatte sich mit der Zeit dunkelbraun verfärbt, war aber erstaunlich gut zu lesen. Die Oberin erkannte, dass der größte Teil des Buches auf Spanisch geschrieben war, doch in der Mitte – da war der Teil in lateinischer Sprache! Das Evangelium! » Deo gratias! «, flüsterte sie. »Das Versteck von Sor Agnes! Ich habe die Chronik gefunden!«
Wieder dachte sie an Sor Rosarios Vision, an die Warnung vor dem Wirbelsturm und die Ankündigung einer »Gabe«, und nun hatte der Orden im Verlauf weniger Stunden die Medaille und die Chronik wiederbekommen. Irgendwo musste es eine Verbindung zwischen ihnen und dem Kind geben, doch Gottes Wege sind unergründlich und sie mussten abwarten, wohin sie führen würden. In der Zwischenzeit galt es, nichts von all dem nach außen dringen zu lassen.
Leider hielten sich die jungen Matrosen nicht an die Anweisung der Oberin, nichts zu sagen. Ein gelangweilter amerikanischer Journalist bekam mit, wie sie in einer Bar von dem Kind und seiner Zaubermedaille erzählten, und fand, dass es eine gute Geschichte war. Er lockerte ihre Zungen mit Cacha ç a und ein bisschen Bargeld, ein Vermögen für junge Männer, die normalerweise mit dem Sold der Marine auskommen mussten. Sie erzählten ihm alles, während er sich Notizen machte, und die Nachrichtenagenturen wärmten seine Story über die »Zaubermedaille« des Mano del Diablo auch Monate später immer wieder auf.
Wie die Oberin befürchtet hatte, bekam der Bischof Wind von der ganzen Sache. Er schickte dem Kloster einen strengen Brief und erinnerte den Orden daran, dass der Verdacht der Ketzerei seit Jahrhunderten wie eine Giftwolke über den Sors Santas de Jesús hing. Er beabsichtige, diese Angelegenheit mit der wundersamen Medaille genauestens zu untersuchen und Rom Bericht zu erstatten, schrieb er. Priester, die man beschuldigte, Kinder missbraucht zu haben, bereiteten der katholischen Kirche zur Zeit genug Probleme, weiterer Ärger oder zusätzliche Kontroversen seien zum gegenwärtigen Zeitpunkt alles andere als willkommen. Er befahl der Oberin, ihm die Medaille unverzüglich zu übergeben. Er würde das Kind Isabela persönlich befragen und es dann zusammen mit der Medaille und seinem Bericht nach Rom schicken.
Die Oberin versuchte, Zeit zu schinden. Sie antwortete vage und erläuterte, dass das Kloster seit dem Mano del Diablo überfordert sei, alles ginge durcheinander und eine einzelne kleine Medaille zu finden, sei etwa so aussichtslos wie die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Hinterlistig bat sie den Bischof, die fragliche Medaille zu beschreiben, damit sie sie erkennen würde, falls man sie fände. Und schließlich führte sie an, dass Isabela erst drei Jahre alt sei und daher bei einer offiziellen Befragung sicherlich keine große Hilfe sein würde.
Die Oberin hatte nicht die Absicht, die Medaille herauszugeben, ebenso wenig, wie sie vorhatte, Isabela in den Vatikan zu schicken. Doch die Nonnen konnten den Bischof nicht bis in alle Ewigkeit hinhalten und sie hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes tun sollte.
Die Antwort kam in Form eines Anrufs einer amerikanischen Missionsgesellschaft. Eines Tages hatte die Oberin den Bezirkschef von Christian Outreach
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