Das Zeichen der Vier
Was halten Sie von dem Gekritzel dieses Burschen?«
»Die Schrift ist gut lesbar und regelmäßig«, antwortete ich; »wohl ein Geschäftsmann mit einer starken Persönlichkeit.«
Holmes schüttelte den Kopf.
»Betrachten Sie einmal die Oberlängen«, sagte er. »Sie ragen kaum über das mittlere Niveau hinaus. Dieses ›d‹ hier könnte ebensogut ein ›a‹ sein, und dieses ›l‹ ein ›e‹. Bei einem Mann von starker Persönlichkeit heben sich die Oberlängen klar ab, wie unlesbar seine Schrift im übrigen auch sein mag. Zudem verrät sein ›k‹ Wankelmut und seine Großbuchstaben Selbstüberschätzung. – Ich gehe jetzt aus; ich muß ein paar Auskünfte einholen. Darf ich Ihnen dieses Buch empfehlen? Winwood Reades 6
Martyrium der Menschheit,
eines der bemerkenswertesten Werke, die je verfaßt wurden. In einer Stunde bin ich wieder da.«
Ich saß im Erker, das Buch in der Hand, aber meine Gedanken waren weit entfernt von den waghalsigen Spekulationen seines Verfassers. Sie kreisten um unsere Besucherin, um ihr Lächeln, den warmen, vollen Klang ihrer Stimme und das seltsame Geheimnis, das ihr Leben überschattete. Wenn sie zum Zeitpunkt des Verschwindens ihres Vaters siebzehn gewesen war, so mußte sie jetzt siebenundzwanzig sein – das schöne Alter, wenn die Jugend ihre Befangenheit abgelegt und im Leben draußen ein wenig Besonnenheit erlangt hat. So saß ich da und sann vor mich hin, bis schließlich Gedanken von solcher Gefährlichkeit in meinem Kopf aufstiegen, daß ich an mein Pult stürzte und mich mit wildem Arbeitseifer in den jüngsten Artikel über Pathologie vergrub. Wer war ich denn schon, daß ich mir anmaßte, mit solchen Gedanken zu spielen? Ein Militärarzt mit einem angeschlagenen Bein und einem noch angeschlageneren Bankkonto! Sie war eine abstrakte Einheit, ein Faktor – und sonst nichts. Wenn meine Zukunft düster aussah, dann war es gewiß besser, sich ihr wie ein Mann zu stellen, als sie mit den Irrlichtern der Phantasie aufhellen zu wollen.
3. Auf der Suche nach einer Lösung
Es war bereits halb sechs, als Holmes nach Hause zurückkehrte. Er war heiter, lebhaft und bester Laune, eine Stimmung, die bei ihm mit Anfällen schwärzester Depression abwechselte.
»Es gibt nichts besonders Mysteriöses an diesem Fall«, sagte er, während er den Tee trank, den ich für ihn eingegossen hatte; »die Tatsachen scheinen nur eine einzige Erklärung zuzulassen.«
»Was, haben Sie die Lösung schon?«
»Nun, das wäre ein bißchen zuviel gesagt. Ich habe eine aufschlußreiche Tatsache entdeckt, das ist alles. Aber sie ist wirklich
sehr
aufschlußreich. Die Einzelheiten fehlen mir noch. Ich habe lediglich die alten Jahrgänge der
Times
zu Rate gezogen und dabei herausgefunden, daß Major Sholto, wohnhaft in Upper Norwood, ehemaliger Offizier des 34 th Bombay Infantry, am 28. April 1882 verstorben ist.«
»Ich bin wahrscheinlich sehr schwer von Begriff, Holmes, aber ich kann nicht sehen, was daran so aufschlußreich sein soll.«
»Ach ja? Das überrascht mich. Versuchen Sie einmal, die Sache folgendermaßen anzuschauen. Captain Morstan verschwindet. Die einzige Person in London, die er aufgesucht haben könnte, ist Major Sholto. Major Sholto bestreitet, von Captain Morstans Anwesenheit in London auch nur gewußt zu haben. Vier Jahre später stirbt Sholto.
Eine Woche nach seinem Tod
erhält Captain Morstans Tochter ein kostbares Geschenk, was sich seither alljährlich wiederholt und nun darin gipfelt, daß sie einen Brief erhält, in dem gesagt wird, es sei ihr unrecht getan worden. Was könnte anderes damit gemeint sein als das Unrecht, daß man ihr den Vater geraubt hat? Und warum sollte die Geschenkserie unmittelbar nach Sholtos Tod einsetzen, wenn nicht aus dem einfachen Grund, daß Sholtos Erbe etwas von dieser dunklen Sache weiß und den Wunsch nach Wiedergutmachung hat? Oder haben Sie eine andere Erklärung, die mit den Fakten übereinstimmt?«
»Aber was für eine seltsame Art der Wiedergutmachung! Und wie seltsam arrangiert! Und weshalb sollte er ihr heute einen Brief schreiben, wenn er es vor sechs Jahren nicht getan hat? Und noch etwas, im Brief wird davon gesprochen, daß ihr Gerechtigkeit widerfahren soll. Was für eine Gerechtigkeit kann das sein? Man muß ja doch wohl annehmen, daß ihr Vater nicht mehr am Leben ist. Und soviel wir wissen, liegt kein anderes Unrecht gegen sie vor.«
»Es gibt da Ungereimtheiten; ganz gewiß gibt es da noch ein paar Ungereimtheiten«,
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