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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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    Diese Vermutung hat sich als richtig erwiesen. Bei Experimenten mit Affen hat Daniel Salzman von der Columbia University einzelne Zellen in der Amygdala untersucht und festgestellt, dass spezifische Gruppen von Neuronen stärker reagieren, wenn visuelle Reize mit Belohnungen gekoppelt sind, als wenn sie mit Bestrafungen einhergehen. Dies lässt darauf schließen, dass Änderungen des positiven wie auch des negativen Wertes eines Bildes die Aktivität der Amygdala beeinflussen und dabei verschiedene Neuronengruppen aktivieren.
    Wir können nicht nur beim Betrachten von Kunst wahrgenommene Emotionen und Erfahrungen verarbeiten, sondern auch in der Wirklichkeit zu erschließen versuchen, was ein anderer Mensch denkt. Dieses Talent beruht auf der Fähigkeit des Gehirns, eine Theory of Mind zu erzeugen – im Deutschen auch als Mentalisierung bezeichnet. Das bedeutet: Wir können uns vorstellen, dass eine andere Person ihre ganz eigenen Ideen, Absichten, Pläne und Sehnsüchte hat, die von unseren eigenen unabhängig sind. Das Unvermögen, die Gedankengänge eines anderen richtig zu deuten, ist ein zentrales Motiv in der Literatur. Jane Austen war eine der frühen Schriftstellerinnen, die in ihren Romanen das Missverstehen romantischer Absichten ausdrücklich thematisierten. Arthur Schnitzler, der das Stilmittel des inneren Monologs nutzte, ermöglichte seinen Lesern damit den Zugang zu zwei oder mehr geistigen Welten auf einmal.
    Wie Ernst Kris und Ernst Gombrich betont haben, müssen auch die Betrachter der darstellenden Kunst in der Lage sein, zu erfassen, was die Künstler über die Wünsche und Ziele ihrer Figuren zu vermitteln versuchen. Diese Übung im Gedankenlesen, zu der die Porträtmalerei auffordert, macht möglicherweise nicht nur Spaß, sondern ist auch hilfreich, weil sie unsere Fähigkeit verbessert, die Gedanken und Gefühle anderer Menschen zu erschließen.
    In seinem Buch The Art Instinct beschreibt Denis Dutton unsere angeborene Reaktion auf Kunst als eine komplizierte Mixtur aus Impulsen, die von der »schieren Anziehungskraft der Farben … äußerster technischer Raffinesse, erotischem Interesse« 174 ausgelöst werden. Kunst bedeutet uns viel, so fährt er fort, weil sie uns beschenkt – mit »einigen der tiefgreifendsten, emotional bewegendsten Erfahrungen, die Menschen zugänglich sind«. 175 Und sie erlaubt uns, unsere Emotionen, unsere Empathie und unsere Theory of Mind zu schulen, wovon unsere sozialen Fähigkeiten letztlich genauso profitieren wie unsere physische und geistige Fitness von körperlichem Training.
    Dutton behauptet ferner, die Künste seien kein Nebenprodukt der Evolution, sondern Anpassungen – instinktgebundene Merkmale –, die uns helfen zu überleben. Laut Dutton hat die Evolution aus uns geborene Geschichtenerzähler gemacht, und der Beitrag unserer nie versiegenden Fantasie zum Überleben unserer Spezies ist immens. Wie er erläutert, macht uns das Erzählen von Geschichten Freude, weil es unseren Erlebnishorizont erweitert und uns die Gelegenheit bietet, hypothetisch über die Welt und ihre Probleme nachzudenken. Geschichten sind, genau wie Werke der bildenden Kunst, stark strukturierte Modelle der Realität, die Erzähler und Hörer gleichermaßen wiederholen und immer neu überdenken können, um die Beziehungen zwischen den Figuren in verschiedenen sozialen Kontexten und Umgebungen zu analysieren. Das Geschichtenerzählen ist eine risikoarme Möglichkeit, Überlebensprobleme in der Fantasie zu lösen. Und es ist eine Quelle an Informationen. Im Verbund mit der Größe des menschlichen Gehirns versetzen uns Sprache und das Erzählen von Geschichten in die Lage, ein ganz individuelles Modell unserer Welt zu erstellen und dieses Modell anderen erfahrbar zu machen. Auf die gleiche Weise versuchte Kokoschka, mit seinen Röntgenaugen den Seelenzustand seiner Modelle zu ergründen und diesen Zustand mithilfe von Gesicht, Händen und Körper der Person zu vermitteln, wobei er entsprechend übersteigerte Körpermerkmale und Farben wählte, um die emotionale Intensität zu steigern.
    Unsere Reaktion auf Kunst rührt von dem unbezwingbaren Drang her, in unserem Kopf den – kognitiven, emotionalen und empathischen – Schöpfungsprozess nachzuvollziehen, in dem Künstler ihre Kunstwerke geschaffen haben. Darin sind sich Gombrich, Kris, die Gestaltpsychologen, der Kognitionspsychologe Vilayanur Ramachandran und der Kunstkritiker Robert Hughes alle einig. Dieser

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