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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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unser Gesicht bewusst zu einem zornigen, traurigen oder einem anderen Ausdruck verziehen: Diese Handlung löst in uns eine schwache Empfindung des jeweiligen Gefühls aus. Einfühlungsvermögen entsteht zum Teil aus solchen Erfahrungen.
    NEUE KOGNITIVE STUDIEN AUS PSYCHOLOGIE und Biologie haben gezeigt, wie es den österreichischen Vertretern der Moderne gelungen ist, die unbewussten Prozesse aufzudecken und zu offenbaren, über die wir uns in andere Menschen hineinversetzen und ihren Gemütszustand nachempfinden. Ein Beispiel liefern uns Selbstporträts. Künstler, die sich selbst porträtieren, betrachten sich dabei meist in einem Spiegel. Messerschmidt arbeitete mit einem Spiegel, als er seine Charakterköpfe modellierte, genau wie Kokoschka und Schiele beim Malen ihrer Selbstbildnisse. Heute wissen wir, dass eine wichtige Komponente der Hirnbahnen, die man beim Anfertigen von Selbstporträts aktiviert, eine besondere Gruppe von Neuronen in Teilen des Motorcortex ist – die sogenannten Spiegelneuronen . Von diesen Neuronen nimmt man an, dass sie die Handlungen und Emotionen unseres »Gegenübers« spiegeln. Künstler nutzen sie nicht nur beim Entwurf von Selbstporträts, sondern auch dazu, die eigenen Handlungen und Emotionen sowie die anderer (abgebildeter) Personen nach außen zu projizieren. Mit diesen faszinierenden Nervenzellen werden wir uns im nächsten Kapitel beschäftigen.

    Abb. 24-1.
Jan Vermeer, Die Musikstunde (Herr und Dame am Virginal) (um 1662–1665).
Öl auf Leinwand.
    Einige Künstler haben Spiegel auf eine faszinierend andere Art und Weise eingesetzt – sie haben sie mitten in ihren Gemälden platziert, um den Betrachtern Einsicht in die Gedankenwelt der Figur und auch des Malers zu gewähren. Zu den ersten Künstlern, die diesen Kunstgriff angewendet haben, gehörten im 17. Jahrhundert Jan Vermeer und Diego Velázquez.
    In Vermeers Gemälde Die Musikstunde (Herr und Dame am Virginal) von 1662 (Abb. 24-1) zeigt uns der Künstler die Rückenansicht einer jungen Frau, die auf einem Virginal (einer Art kleinem Cembalo) spielt; ein junger Mann steht rechts von ihr und hört aufmerksam zu. Die Haltung ihres Kopfes lässt vermuten, dass ihre Augen auf ihre Hände gerichtet sind, die sich über die Tasten bewegen. Vermeer hat über das Instrument jedoch einen Spiegel gemalt, mit dessen Hilfe er seinen Betrachtern noch eine ganz andere Wirklichkeit präsentieren kann. Im Spiegel ist der Kopf der Frau nicht gerade nach unten gebeugt, sondern nach rechts gedreht, sodass sie in Richtung des Mannes schaut. Wie erwähnt, reagiert das menschliche Gehirn ausgesprochen empfindlich auf die Blickrichtung einer Person, indem es anhand der Augen auf ihre Interessen und ihren Gemütszustand schließt. Die Augen der Frau im Spiegel sagen uns, dass der wahre Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit und vielleicht auch das Objekt ihrer heimlichen Begierde der Mann ist, der einige Schritte von ihr entfernt steht und sie betrachtet. Das von Vermeer geschaffene Spiegel-Bild betont die Spannung zwischen der äußeren Realität und den wahren Vorgängen in der Gedankenwelt der Frau.
    Manche Maler gewährten den Betrachtern nicht nur Einblick in die Seele ihrer Figuren, sondern gelegentlich auch in ihre eigene. In Velázquez’ Gemälde Las Meninas (Die Hoffräulein) von 1656 (Abb. 24-2) erscheint der Künstler erstmals als zentrale Figur in seinem eigenen Bild – nicht als Objekt eines Selbstporträts, sondern als wichtigster Bezugspunkt eines großen Gruppenporträts, an dem er gerade arbeitet. Velázquez nimmt in dem Bild eine dominierende Rolle ein und erklärt damit, dass er derjenige ist, dem das Gemälde seine Existenz verdankt. Er verwendet ebenfalls einen Spiegel – in diesem Fall, um Personen darzustellen, die den Betrachtern sonst verborgen bleiben würden, und um diesen die Kunstfertigkeit vor Augen zu führen, die eine bildliche Darstellung verlangt.
    Las Meninas zeigt uns einen Raum im Palast des spanischen Königs Philipp IV ., wo Velázquez ein gigantisches Porträt der königlichen Familie malt. In der vorderen Mitte des Gemäldes steht die fünfjährige Infantin Margarita, die sich schließlich zu ihren Eltern gesellen wird, um mit ihnen Modell zu sitzen, umgeben von ihrem Hofstaat – zwei Hoffräulein, einer Ehrendame, einem Leibwächter, zwei Zwergen und einem Hund. Im Hintergrund steht der Hofmarschall an einer offenen Tür; er dreht sich herum, als wollte er König und Königin seine Ehrerbietung

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