Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Kunstformen. Die Kunst bereichert unser Leben, indem sie uns mit Ideen, Gefühlen und Situationen konfrontiert, die wir sonst möglicherweise niemals kennenlernen würden oder auch gar nicht kennenlernen wollten. Kunst verschafft uns die Gelegenheit, eine Vielzahl verschiedener Erfahrungen und Emotionen in unserer Fantasie zu erforschen und zu erproben.
SCHÖNHEIT UND HÄSSLICHKEIT in einem porträtierten Gesicht stehen in einem ähnlichen Verhältnis zueinander wie Freude und Schmerz. Die Schönheit beansprucht keine andere Hirnregion als die Hässlichkeit. Beide befinden sich auf einem Kontinuum, auf dem die Werte repräsentiert sind, die das Gehirn ihnen zugewiesen hat, und beide werden durch relative Änderungen der Aktivität in denselben Hirnarealen codiert. Dies entspricht der Vorstellung, dass positive und negative Emotionen auf ein und derselben Skala liegen und dieselben neuronalen Schaltkreise abrufen. Demzufolge reguliert die Amygdala, die im Allgemeinen mit Angst assoziiert ist, auch das Gefühl von Glück.
Wie die Gründer der Wiener Schule der Kunstgeschichte hätten voraussagen können, laut denen es in der Kunst nicht nur einen einzigen Maßstab für Wahrheit gibt, scheinen ästhetische Bewertungen den gleichen grundlegenden Regeln zu folgen wie allgemeine Beurteilungen emotionaler Reize. Bei jeder Beurteilung einer Emotion, von Glück bis Leid, nutzen wir dieselben fundamentalen neuronalen Schaltkreise. Wenn es um Kunst geht, bewerten wir, wie gut es einem Porträt gelingt, uns neue Einblicke in den Seelenzustand einer anderen Person zu verschaffen. Diese Entdeckung, die Ray Dolan und seinen Mitarbeitern am University College London gelungen ist, verdankte er einer Reihe von Studien. Darin betrachteten freiwillige Teilnehmer Gesichter, deren Ausdruck von Trauer, Angst, Ekel oder Glück sich allmählich immer mehr steigerte (Abb. 23-4).
Abb. 23-4.
Ray Dolans Studie über Ekman-Gesichter, die vier universelle Gesichtsausdrücke in zunehmender Intensität zeigen.
Dolan und seine Mitarbeiter wollten herausfinden, wie die Amygdala, die Konzertmeisterin der Emotionen, auf glückliche oder traurige Gesichter reagiert. Insbesondere untersuchten sie die Reaktionen der Amygdala auf emotionale Gesichter, die kurz präsentiert werden und daher nur unbewusst wahrzunehmen sind, im Vergleich zu Reaktionen auf langsamer präsentierte Gesichter, die eine bewusste Wahrnehmung zulassen. Dolan stellte fest: Die Amygdala und das fusiforme Gesichtsareal des Temporallappens reagieren auf das Bild eines Gesichts ungeachtet des dargestellten Gefühls und unabhängig davon, ob das Bild bewusst oder unbewusst wahrgenommen wird. Andere Bereiche des Gehirns, wie der somatosensorische Cortex und Teile des präfrontalen Cortex, die starke, direkte Verbindungen zur Amygdala besitzen, reagieren nur auf bewusste Wahrnehmungen von Gesichtern, jedoch unabhängig von dem gezeigten Gefühl. Das lässt vermuten, dass diese Regionen an der Weiterleitung von Informationen beteiligt sind, die für die Übermittlung bewusster Gefühle erforderlich ist, wie wir in Kapitel 29 sehen werden. Außerdem bekräftigen die Ergebnisse die Vermutung, dass die Amygdala sowohl für die bewusste als auch die unbewusste Wahrnehmung von Gesichtern aktiviert wird und auf positive wie negative Reize reagiert, der präfrontale Cortex hingegen nur an der bewussten Gesichtswahrnehmung beteiligt ist.
Dazu passen Dolans Resultate aus bildgebenden PET -Studien, nach denen bei Personen, die ängstliche oder glückliche Gesichter betrachten, die Präsentation immer ängstlicherer Gesichter die Aktivität der Amygdala erhöht, während immer glücklichere Gesichter die Aktivität sinken lassen.
WIE IST ZU ERKLÄREN, DASS DIE AMYGDALA für unterschiedliche Emotionen, einschließlich verschiedener Gesichtsausdrücke, zuständig ist? Reagieren ein und dieselben Zellen in der Amygdala auf entgegengesetzte Weisen, oder werden für verschiedene Emotionen unterschiedliche Populationen von Nervenzellen aktiviert? Fortschritte in der modernen Biologie haben Darwins Erkenntnis bestätigt, dass wir etwas über die Grundlagen des menschlichen geistigen Lebens erfahren können, wenn wir einfachere Tiere untersuchen. Nicht nur Gene bleiben im Laufe der Evolution erhalten, sondern auch Körperformen, Hirnstrukturen und Verhalten. Darum ist es wahrscheinlich, dass wir einige fundamentale neuronale Mechanismen für das Erleben von Angst und Freude mit anderen Tieren
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