Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
einher mit dem Empfinden einer inneren Verbundenheit und einem Gefühl von Ruhe, Wohlbefinden und emotionalem Einssein. Während Anziehung der Wahl eines Partners und Lust der körperlichen Vereinigung und Fortpflanzung voraufgeht, ist die Zuneigung eine wesentliche Voraussetzung für das Aufziehen von Nachkommen. Anziehung aktiviert das Dopaminsystem, wohingegen Zuneigung, wie wir noch sehen werden, die Systeme aktiviert, welche die Peptidhormone Oxytocin und Vasopressin freisetzen.
KUNST INSPIRIERT UND VERFÜHRT UNS NICHT NUR – sie gibt uns auch Rätsel auf, verblüfft und ängstigt uns oder stößt uns sogar ab. Bis 1900 war Schönheit in der Kunst gleichbedeutend mit Wahrheit. Dieser Grundsatz beruhte auf dem hohen Wert, den Einfachheit und Schönheit in der klassischen Kunst besaßen. Um 1900 stellte Gustav Klimt diese Haltung, wie wir gesehen haben, mit seinen drei Deckengemälden für die Universität Wien infrage (Kapitel 8). Als man die Gemälde ablehnte, weil sie zu radikal, zu pornografisch, zu hässlich seien, wiesen die Dozenten der Wiener Schule der Kunstgeschichte, darunter Alois Riegl und Franz Wickhoff, darauf hin, dass die Wahrheit komplex und häufig nicht schön sei. Krankheit und Tod, die Klimt im Bild für die medizinische Fakultät darstellte, seien vielleicht nicht schön im konventionellen Sinne, doch Erkrankungen des menschlichen Körpers seien nun einmal oft hässlich und schmerzlich zu erfahren.
In einem Vortrag vor der Philosophischen Gesellschaft Wien erläuterte Wickhoff, was in der einen geschichtlichen Epoche als hässlich gelte, betrachte man in einer anderen als schön. In der Hässlichkeit klinge die Wahrheit ebenso an wie in der Schönheit. Historisch repräsentierten beide sehr wohl biologische Wahrheiten: das instinktive Bedürfnis, sich Dingen zu nähern, die die Überlebenswahrscheinlichkeit und die Gelegenheit zur Reproduktion erhöhten, und Dinge zu meiden, die dies nicht täten. Von dieser historischen Warte aus gesehen, stehe Hässlichkeit in engem Zusammenhang mit Leben und Tod. Laut Wickhoff gab man diese biologische Unterscheidung in der Renaissance auf, als die klassischen Künstler begannen, Abbilder von Schönheit zu schaffen, die sich nach sexuellen Vorlieben richteten. Danach galt in der Kunstgeschichte alles, was von dieser begrenzten Perspektive abwich, nicht mehr als schön oder wahrhaftig.
Schon bevor Klimt seine Fakultätsbilder malte, hatten Riegl und Wickhoff bereits darauf hingewiesen, dass die Kunst nie stillstehe. Rodin sagte: »In der Kunst kann es keine Unmoral geben. Kunst ist immer heilig, selbst wenn sie die schlimmsten Exzesse der Begierde zum Thema erwählt. Da sie nichts anderes als die Aufrichtigkeit der Beobachtung im Blick hat, kann sie sich nicht selbst entwürdigen.« 173 Mit einer Gesellschaft entwickelt sich auch ihre Kunst. Die Vorstellung, dass zeitgenössische Kunst weiterhin den antiken Standards folgen solle, bestärkt demnach die Betrachter darin, alles Neue oder Schwierige als hässlich abzutun. In ihrem hervorragenden Artikel über »Hässlichkeit und die Wiener Schule der Kunstgeschichte« legt Kathryn Simpson dar, dass Riegl drei Jahre nach Wickhoffs Vortrag dieses Argument in eine neue Richtung gelenkt habe. In bestimmten Kontexten, so schrieb er, betrachte man nur »neue« und »heile« Dinge als schön, alte, fragmentarische und verblichene Dinge hingegen als hässlich.
Kokoschka und Schiele erkannten in Klimts Werk eine Kampfansage an den konventionellen Geschmack; davon inspiriert, entwickelten sie kühne, ganz individuelle expressionistische Stilrichtungen, mit denen sie die Wahrheit, einschließlich der Hässlichkeit des Lebens, abbildeten. Für Schiele bedeutete das, die eigene Person, selbst beim Sex, als kranken, deformierten und manischen Menschen darzustellen (Abb. 10-8 und 10-13); für Kokoschka bedeutete es, sich als irren Krieger oder zurückgestoßenen, wehrlosen Geliebten abzubilden (Abb. 9-8 und 9-15).
Damit drängt sich eine Frage auf: Im Leben fühlen wir uns – ganz konservativ – von biologisch festgelegten und zusammenwirkenden Schönheitsidealen angezogen. Warum reagieren wir dann so anders auf Kunst? Warum sind wir wahrhaft fasziniert von Klimts Darstellung der Judith als Männer verstümmelndem Weib oder Schieles Selbstbildnissen als angsterfülltem, labilem psychischem Wrack?
Die Frage betrifft eindeutig Kunst in ihrer allgemeinen Funktion – nicht nur die Porträtmalerei, sondern alle
Weitere Kostenlose Bücher