Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
Vom Netzwerk:
überein, dass die visuelle Verarbeitung in mehreren Phasen erfolgt und man die Eigenschaften eines Bildes beim ersten Anschauen anders verarbeitet als später beim erneuten Betrachten.
    SICH AN DER SCHÖNHEIT EINES GEMÄLDES zu erfreuen, ist das eine – sich in die Schönheit eines Porträts zu verlieben, das andere. Rückschlüsse auf die Vorgänge im Gehirn, die dabei in Gang gesetzt werden, erlauben uns möglicherweise die Begegnungen, die Ronald Lauder mit Adele Bloch-Bauer I hatte, einem der großartigsten Gemälde von Gustav Klimt, an dem der Künstler drei Jahre lang arbeitete. Im Alter von 14 Jahren verliebte sich Lauder in das Bildnis dieser schönen, rätselhaften Frau, in ihre leicht geöffneten, sinnlichen Lippen, ihr prächtiges juwelenbesetztes Halsband (Abb. 1-1). Er war verzaubert von Adeles Bild, von ihren Emotionen, ihrer Sexualität und ihrem direkten Blick.
    Es kommt vor, dass die Schönheit eines Gemäldes nicht einfach nur ein positives Gefühl hervorruft, sondern etwas, das fast schon an Liebe grenzt, eine ästhetische Sucht – so wie es wohl bei Lauder und dem Porträt Adele Bloch-Bauers war. Lauder begehrte ihr Bild. Nach seinem ersten Besuch kehrte er fast immer im Sommer nach Wien zurück, um Adele wieder und wieder anschauen zu können. Er begann in ihr das bedeutendste Porträt ihrer Zeit zu sehen, die Mona Lisa von »Wien 1900«. Und schließlich gelang es ihm, sie in Besitz zu nehmen.
    Mittlerweile wissen wir, dass der Anblick eines geliebten Bildes, genauso wie der Anblick eines geliebten Menschen, nicht nur den orbitofrontalen Cortex aktiviert, der auf Schönheit reagiert, sondern auch die dopaminergen Neuronen an der Hirnbasis, wenn eine Belohnung zu erwarten ist. Diese Neuronen sprechen auf das Bild eines Liebesobjekts an, sei es ein Mensch oder ein Gemälde – ganz ähnlich, wie die Neuronen eines Kokainabhängigen reagieren, der Kokain sieht. Demzufolge verstärkte die Tatsache, dass der häufige, regelmäßige Zugang zu Adeles Bild Lauder 47 Jahre lang verwehrt blieb, möglicherweise noch die Aktivität seiner dopaminergen Neuronen und befeuerte sein Verlangen, dieses großartige Bild selbst zu einem exorbitanten Preis zu erwerben, sobald es zum Verkauf stand.
    Lucy Brown, Helen Fisher und ihre Mitarbeiter am Albert Einstein College of Medicine und an der Rutgers University waren die Ersten, die die Parallelen zwischen der Reaktion auf ein geliebtes Bild oder eine geliebte Person und der Reaktion auf ein Suchtmittel aufzeigten. Sie führten Zekis Studien über die Wirkung allgemeiner Bildbetrachtungen weiter, indem sie analysierten, was geschieht, wenn man Bilder eines geliebten Menschen betrachtet. Sie untersuchten Personen, die sich in der frühen Phase einer heftigen Verliebtheit befanden, und Personen, die von ihrem geliebten Partner zurückgewiesen worden waren. In allen Fällen, so stellten sie fest, wies die emotionale Reaktion auf Bilder charakteristische biologische Marker auf: die Aktivierung der dopaminergen Neuronen und der Neuronen im orbitofrontalen Cortex (Abb. 23-3). Wie wir noch eingehender in Kapitel 26 erörtern werden, ist das dopaminerge System das entscheidende Regulationssystem des Gehirns für Belohnungen. Wenn zudem eine zurückgewiesene, aber nach wie vor verliebte Person ein Bild des geliebten Menschen sah, wurde das dopaminerge Belohnungssystem sogar noch stärker aktiviert. Liebe ist also offenkundig eine natürliche Sucht, die ein mit Belohnungen einhergehendes Motivationssystem in Gang setzt, das eher Triebe – wie Hunger, Durst oder das Verlangen nach Drogen – freisetzt als nur Emotionen. Dies erklärt, warum die Gefühle sogar noch intensiver werden, wenn uns das Bild des Liebesobjekts entzogen wird, so wie es Lauder erging, als ihm der ständige Kontakt mit Adeles Bildnis verwehrt war.

    Abb. 23-3.
Wenn Versuchspersonen ein Bild des von ihnen geliebten Menschen betrachteten, aktivierte dies die dopaminergen Nervenzellen im rechten ventralen tegmentalen Areal.
    Fisher und ihre Kollegen haben auch herausgefunden, dass wir verschiedene biologische Systeme für Anziehung, Lust und Zuneigung entwickelt haben. Anziehung bewirkt das Fokussieren der Aufmerksamkeit auf eine Person oder die symbolische Repräsentation dieser Person, begleitet von Hochgefühlen, obsessivem Denken an die Person sowie der Sehnsucht nach emotionaler Vereinigung mit ihr. Lust ist dagegen das Verlangen nach sexueller Befriedigung. Zuneigung ist wieder anders. Sie geht

Weitere Kostenlose Bücher