Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
erweisen, bevor er den Raum verlässt. Etwas weiter zum linken Bildrand hin arbeitet Velázquez an der riesigen Leinwand; er präsentiert stolz Pinsel und Palette – königliches Zepter und Reichsapfel des Malers. Er schaut aber nicht auf die Leinwand, sondern auf seine Modelle, König Philipp und Königin Mariana, die wir nur als Reflexionen in einem Spiegel sehen können, der hinter dem Maler hängt. Da wir uns dort befinden, wo das Königspaar stehen würde, blickt Velázquez auch uns direkt an. Dieses außerordentliche Gemälde ist ein Musterbeispiel für das Verfahren, das Alois Riegl an den Gruppenporträts so sehr bewunderte – die Einbeziehung des Betrachters in das Kunstwerk.
Velázquez benutzt den Spiegel, um das Bild mehrdeutig zu machen. Sehen wir das Spiegelbild der Leinwand, die der Künstler gerade bemalt? Oder sehen wir das Spiegelbild des Königspaares selbst, das außerhalb des abgebildeten Raumes steht? Velázquez konfrontiert die Betrachter zum ersten Mal mit der gleichermaßen künstlerischen und philosophischen Frage: Welche Rolle spielt der Betrachter? Schlüpft er in die Rolle von König und Königin, wenn er vor dem Bild steht? Was ist Wirklichkeit und was ist Illusion? Abgesehen davon, was der Spiegel tatsächlich reflektiert, ist er noch eine Ebene weiter von der Realität entfernt, weil er die Abbildung einer Reflexion ist – er ist das Bild vom Bild eines Bildes.
In Velázquez’ Gemälde deuten sich bereits Fragen an, die später die Vorstellungen der Moderne beherrschen sollten; sie wurden von besonderer Bedeutung für die österreichischen Expressionisten und ihre Auseinandersetzung mit der Vermittlung physischer und psychischer Realität. Mithilfe der vom Spiegel repräsentierten Mehrdeutigkeit und der eigenen dominierenden Präsenz im Bild führt Velázquez den Betrachtern den Akt der Repräsentation überdeutlich vor Augen. Er macht ihnen den Prozess bewusst, mit dessen Hilfe die Kunst eine Illusion der Wirklichkeit erschafft – die Illusion, dass das Gemälde die Wirklichkeit ist und nicht nur ihre künstlerische Darstellung.
Abb. 24-2.
Diego Rodríguez de Silva y Velázquez, Las Meninas (Die Hoffräulein) (um 1656).
Öl auf Leinwand.
In einem weiteren Schritt rückt Velázquez zudem die unbewussten Vorgänge in unser Bewusstsein, mit denen der menschliche Geist die physischen und emotionalen Wirklichkeiten repräsentiert, die uns in jedem wachen Moment unseres Lebens umgeben. Mit seinen verschiedenen Ebenen der Mehrdeutigkeit und seiner künstlerisch brillanten Ausführung zählt dieses außergewöhnliche Gemälde zu den bedeutendsten Werken in der Geschichte der abendländischen Kunst. Es steht für den Beginn des Selbst-Bewusstseins. Damit ist es ein Symbol modernen philosophischen Denkens und markiert die Wende von der klassischen zur modernen Kunst.
VERMEER UND VELÁZQUEZ GABEN den Anstoß zu zwei neuen Kunstansätzen, die von Vincent van Gogh, Kokoschka und Schiele aufgegriffen wurden. Der erste, den wir in Vermeers Werken erkennen, ist der bewusste Versuch des Künstlers, nicht nur die äußere Gestalt seiner Figuren detailliert darzustellen, sondern auch Aspekte ihres Gefühlslebens. Der zweite, der sich bei Velázquez und dann noch sehr viel dramatischer bei van Gogh zeigt, ist die Enthüllung der technischen Feinheiten, mit denen der Künstler gearbeitet hat. Sobald der Künstler nicht bloß der Diener seines Auftraggebers ist, sondern die für sein Werk zentrale Kraft, wie Velázquez ihn dargestellt hat, erlangen die von ihm verwendeten Verfahren eine entscheidende Bedeutung: Mit ihrer Hilfe erschafft der Künstler nicht nur eine Illusion der Wirklichkeit, sondern enthüllt zugleich, mit welchen Mitteln ihm dies gelingt.
Nachdem van Gogh in seinen späten Werken kurze, deutlich erkennbare, expressive Pinselstriche, die sorgfältig voneinander abgegrenzt waren, und leuchtende, kontrastreiche, willkürliche Farben zu einem Gesicht oder einem Bild zusammenfügte, setzten die modernen Maler alles daran, den Betrachtern den Schaffensprozess als solchen vor Augen zu führen. Auf diese Weise betonten sie, dass alle Kunst Illusion ist und Illusion ihrerseits eine künstlerische Aufbereitung der Realität. Die Art der gezeichneten Linie, das Zerkratzen der Ölfarbe auf der Leinwand, das Aufgeben oder Verzerren der Perspektive mit dramatischen Effekten sollen den Betrachtern die Allgegenwart des schöpferischen Künstlers aufzeigen.
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