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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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Wehrmacht (wie auch im Berg mitsamt Bergrettung, Film-Mutter und Frau im Dirndl), oder in Rommel, oder in seinem Panzer in Rußland, von dem er vielleicht träumte, vielleicht auch nicht anders als jemand von einem Porsche Cabrio heute. Am Ende, soll man das sagen?, war der Glücksglaube meines Onkels, der ja noch etwas mit Kollektiven zu tun hatte, mit Völkern und dem Volk, bis zum letzten Augenblick und unter Einsatz des Lebens , das Gegenteil von Hedonismus, es war ein Opferwille, wie ihn Kinder haben und wie man ihn sonst vielleicht nur noch in der BDSM-Szene sieht, wo sie auch alle ihre Sehnsucht haben, und wie, und wäre mein Onkel unter sie geraten, wer weiß, am Ende hätten sie ihn am Schlafittchen gehabt und Vollmacht über sein Konto. Die Menschen wollten ja immer nur eins: sein Geld.
    Vielleicht hat er das Sommerlicht genossen, das im Juli, im August, im September am Mittag durch die Gläser des Hauptbahnhofs fallen konnte, ich würde es ihm wünschen, bei seinem inzwischen nicht mehr mitgezählten soundsovielten Bier und ohne Rettung aus alldem, aber vielleicht auch ohne jede Verzweiflung, die er gar nicht spürte, ebensowenig wie seinen Schmerz. Aber es ist auch nicht unwahrscheinlich, daß sie bereits in der Pause ins Bahnhofsviertel gingen und sich zwischen den Auslagen hinwegträumten in Gottes Paradies, für das sie auch hier in Frankfurt am Main geschaffen waren, woher auch immer sie kamen. Zwei Dinge sind möglich, entweder sie saßen gemeinsam auf der Pausenbank, mit Bier in der Hand, Zigarette zwischen den Fingern, und führten Respektsgespräche, Anstand und Form auch noch oder gerade unter und mit den Ausländern, die auch ihren Stolz hatten, auch auf der Post, obgleich sie da wahrscheinlich nie hingewollt hatten, wie sie vermutlich nie nach Deutschland gewollt hatten, aber dann war es doch so gekommen. Dann redeten die Spanier und Italiener über ihre Familie und mein Onkel auch,wobei er vor allem von der großen Firma und dem großen Vater, dem Firmenchef sprach (dreißig Angestellte! nur J. nicht dabei); oder sie waren bereits verabredet, hatten die nächste Stufe schon erklommen, erkannten sich in ihrer unstillbaren und jeden Tag wie neugeborenen Gier nach Leben und hatten nur den einen Gedanken: sofort auf die Kaiserstraße und es loswerden, egal wie, ob vor der Leinwand oder mit etwas in der Hand. So kann man sie sich auch vorstellen: Pausenglocke und sofort hinaus, die Hand schon am Hosenknopf. So waren sie dem Glück immer nah in Frankfurt und erholten sich davon erst wieder, wenn sie zu Hause waren bei ihren Familien und Kindern, für die sie all das machten, nämlich jeden Tag Geld verdienen auf der Post im Frankfurter Hauptbahnhof, Abteilung Paketverteilung.
    Nicht einmal einen Gabelstapler durfte mein Onkel in der Post fahren, und er hatte doch einen Führerschein. Der Gabelstaplerfahrer war die natürliche Autorität, J. hatte diese natürliche Autorität nicht, er scheiterte ja schon an uns, meinem Bruder und mir, mit seiner Ehrfurcht vor der Bergrettung. Bewundernd stand J. vor dem Gabelstapler, wenn er stillstand, und bewundernd stand er vor ihm, wenn er bedient wurde, wenn ihn jemand bedienen durfte, und J. schaute all den Handgriffen und Fahr- und Hebetechniken genau zu, ganz genau, als könnte er etwas dadurch lernen, aber er lernte doch nie etwas, seinStudium der Dinge war immer genauso sinnfrei wie sein Aufschrauben der Schaltungen und Dynamos im Keller: alles lag anschließend nur in unverstandenen Einzelteilen herum und wurde nie mehr zusammengefügt. Seine Sehnsucht löste alles auf, um den Dingen näherzukommen. Was er in die Hand nahm, zerfiel. Eine einzige Dialyse. Wäre J. jemals allein in der Pakethalle gewesen, allein mit dem Gabelstapler, und wäre im Umkreis von einem Kilometer kein Mensch zu finden gewesen, ich glaube, er hätte sich nicht einmal dann probeweise auf den Gabelstapler gesetzt. Hätte er sich auf ihn gesetzt, wäre er unfähig gewesen, ihn zu starten, geschweige denn zu fahren oder gar die Gabel zu betätigen; aber soweit wäre es nicht gekommen, er wäre höchstens ehrfürchtig um den Gabelstapler herumgegangen, hätte seine Hand auf die Karosserie gelegt, interessiert die Knöpfe und Hebel betrachtet und gewartet, bis jemand dazugekommen wäre. Immer wartete er. Das war sein Leben: immer hatte er gewartet. War niemand da, war er wie abgeschaltet, ausgenommen im Keller, ausgenommen im Wald, ausgenommen in der Wirtschaft (aber da war ja immer

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