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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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sie, die Schulkameraden, ihn umgebracht, hätte er es ebenfalls nicht bemerkt, und die anderen auch nicht. Sie hätten ihn aus Versehen einfach töten können, er hatte kein Schmerzmaß, das schon vorher hätte voll sein können. Auch sie waren darauf angewiesen, daß er wenigstens einmal schrie oder stöhnte, damit sie merkten, wie hart sie wirklich schon zuschlugen und zutraten. Nicht einmal das gab mein Onkel her. Von Schlägereien nach der Zeit im Rheinland ist allerdings in unserer Familie nichts mehr überliefert. Auch auf der Post in Frankfurt kam er wohl durch.
    Und nun ist das letzte Arbeitsbier getrunken, wahrscheinlich mit angewinkeltem Arm und Genußgeräusch, und es ist gegen zwei Uhr nachmittags, und Onkel J. meldet sich ordnungsgemäß vom Dienst ab und hat nun noch eine Dreiviertelstunde, bis der Zug nach Bad Nauheim fährt, bevor J.s Rest des Tages beginnt, den er mit allerlei schönen Sachen ausfüllen wird, wie er sich vermutlich jetzt schon ausmalt. Der Frauenwald mit seinen Tieren und Hochsitzen und das Forsthaus Winterstein. Das Bier ist vielleicht schon wieder abgebaut, es war ja nur Nahrung, man schleppte schließlich. Vielleicht bleibt nur eine Grundbläue, ein leichter Schleier über allem. Und so hinein in die letzte Dreiviertelstunde und vielleicht zuerst auf den Bahnhofsvorplatz, noch eine letzte Zigarette mit den Kollegen und wie der Marlboromannin die Leere oder Weite schauen (je nachdem, wie man den Blick des Marlboromanns deutet). So fühlten sie sich geborgen, mit aufgehobener Depression. Dann geht mein Onkel los, zum Abschluß noch einmal über die Kaiserstraße bis hin zum Theaterplatz. Da sehe ich ihn immer laufen, das alte Kind. Leicht vornübergebeugt, die Schultern etwas hochgezogen bzw. den Kopf zwischen sie gesenkt, die Hände in den Taschen, winters trug er eine Art Tschapka, aber ohne Fell, dafür mit Kunststoff-Futter, er trug immer dasselbe, zeitlebens, kommt mir vor. Meistens sah man ihn von hinten, wie er vor Dingen stand, vor Schaufenstern, Baumaschinen, Straßenbahnen, wie er durch Scheiben hineinschaute auf Auslagen oder auf die Instrumente der bewunderten, jeweils ganz modernen, neuesten Automobile. Die Bewunderung ging immer nach vorn, durch seine Augen heraus. Fuhr eine Harley Davidson an ihm vorbei, bewunderte er das Motorrad (obgleich amerikanisch). Fuhr ein Porsche vorbei, bewunderte er ihn. Er durfte immerhin einen VW-Variant haben. Der war allerdings auch sein Heiligtum. Die Zeremonie des In-die-Garage-Hineinfahrens: Das Automobil blieb erst im Hof stehen, in die Garage gefahren wurde es noch nicht, da beließ es mein Onkel lieber noch bei der Vorfreude, die alles steigert. Erst noch ins Haus, erst noch ein Bier trinken, und dabei bereits den bald folgenden, gewichtigen Akt im Kopf: Daß das Automobil noch in die Garage gefahren wird, für den Abend, für die Nacht, denn das Automobil muß in die Garage. Als sei es seine kleine Mondrakete, oder als sei es sein eigener, ihm ganz allein gehörender Panzer in Rußland (den muß man pflegen, der muß heute auch noch in die Garage, wie das Kind ins Bett). Vielleicht hätte J. für das In-die-Garage-Bringen gern eine Uniform angezogen, eigens dafür, wer weiß. Auf jeden Fall fühlte er sich immer erhoben, und er kündigte es auch jedesmal an, so daß es anschließend jeder im Haus wußte: Gleich wird der Variant in die Garage gefahren. War er drin, war die Welt in Ordnung, der Tag konnte weitergehen und das Fest war gefeiert.
    In Frankfurt fuhren wesentlich mehr Automobiltypen herum als in Bad Nauheim in der Wetterau, zumal Ende der sechziger Jahre. Viele Autotypen kamen noch gar nicht aufs Land, und bei J. im Frankfurter Bahnhofsviertel waren die Autos immer die größten und teuersten und protzigsten, aus naheliegenden Gründen, da konnte mein Onkel seine Augen aus dem Kopf herausschauen, da konnte er bewundern. Er blieb dann einfach stehen und schaute den Limousinen nach, bis ganz zum Schluß, bis die Gegenstände seiner Sehnsucht um die Ecke oder in der Ferne verschwunden und nicht mehr sichtbar waren. Als Mensch hing er, neben der katholischen Religion, zu der er erzogen worden war, der damals noch mehr oder minder ungebrochenen Schneller-Höher-Weiter-Religion an. Das bezog sich auf Automobile und Gewehre und Raumraketen, aber natürlich auch auf Bauwerke, besonders auf Baustellen, im Bau befindliche Bauwerke waren noch faszinierender als die fertiggebauten. Wie andere während der Schwangerschaft ihre

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