Das Zimmer
Zustände hatten, so er beim Bau eines Bauwerks. Wie es wuchs! Und wie sie alle arbeiteten! Und was sie für schweres Gerät hatten! Und wie viele Stockwerke es geben würde! Man muß sich einmal vorstellen, in welcher kargen Zeit mein Onkel anfänglich in Frankfurt gelebt hat. Da gab es nichts, da gab es nur den Henningerturm, aber den immerhin mit Drehrestaurant. Dann gab es später den Fernsehturm, ansonsten war Frankfurt fast noch völlig flach. Die eigentlichen Hochhäuser kamen erst später, J. hat sie teilweise noch erlebt. Auch den Messeturm hat er noch erlebt. Da wird er viel Zeit verbracht haben, und so nahe am Bahnhof! Man brauchte nicht einmal zehn Minuten zu Fuß, und man stand an der Baustelle des Gebäudes, von dem man wußte, daß es später einmal das größte Gebäude in ganz Europa sein würde. Mein Onkel stand am Bauzaun und wußte es auch. Nicht ein großes, also beliebig, sondern das größte . Die riesige Baugrube, die Gerüste, die Fundamente, zuerst alles noch ein Loch (voller fremder Arbeiter, aber mit deutschem Vorarbeiter), jeder an seinem Platz, und alle wissen, was sie zu tun haben, vom frühen Morgen an auf dieser Baustelle von Europashöchstem Turm, der noch ein Loch ist. Fern, da hinten, steht der Vorarbeiter und hat seinen Plan entrollt und deutet mit seinem Arm nach da und da, ein Feldherr, so steht er da, wie Onkel J.s Vater in der Firma vielleicht, oder wie Rommel in der Wüste. Dann ist schon das Fundament gelegt (tausend Stäbe schauen aus dem Beton, und alles nach Plan), und dann geht es immer schneller, Stockwerk um Stockwerk, und mein Onkel muß immer öfter hin, um nichts zu verpassen, alles ist wichtig und von hoher Bedeutung, man kann dann sagen, daß man dabeigewesen war, an der größten, wichtigsten Baustelle Europas, kann dann zu Hause davon erzählen, in der Wetterau, im Forsthaus Winterstein. Man sieht ihn nun schon aus der Ferne, den Turm, noch ein Stumpf, und immer noch steht der Vorarbeiter oben mit seinem Plan und weist nach da und dort (mein Onkel kann ihn nicht mehr sehen, stellt ihn sich aber vor, denn ohne Vorarbeiter geht es ja nicht). Und dann sieht man den Turm schon von der Bahn aus, bei der Fahrt von der Wetterau nach Frankfurt am Main, bereits halb so hoch, wie er werden soll, aber da ist mein Onkel schon pensioniert und fährt gar nicht mehr nach Frankfurt, sondern bleibt zu Hause und darf inzwischen auch, seiner Beine wegen, nicht mehr rauchen (er trinkt nur noch Bier), aber fährt man mit dem inzwischen sehr in die Jahre gekommenen Variant Richtung Forsthaus, dann sieht man ihn sogar vonder Wetterau aus, den Messeturm. Manchmal steigt mein Onkel aus, dann steht er vor seinem Variant, im Wintermäntelchen, die Hände in den Taschen. Ganz klein in der Ferne ist es zu sehen, das höchste Gebäude Europas. Der Messeturm, und mein Onkel noch dabei! Wenn auch nur von der Wetterau aus. Glücklicher ein Leben kaum vorstellbar. Und wenige Jahre später war dann der Messeturm auch schon wieder gar nicht mehr das höchste Gebäude in Europa. Das hat mein Onkel aber wohl nicht mehr mitbekommen, und stünde er heute dort auf dem Weg zum Forsthaus und blickte nach Frankfurt, wäre er wohl desorientiert und könnte das alles gar nicht mehr unterscheiden, all die Türme, das hessische San Gimignano da hinten jenseits der weiten Felder der Wetterau, klein liegt es da und fast lieblich auf Distanz. Hätte er die Ortsumgehung erlebt, nicht auszudenken, die ganze Wetterau eine Baustelle, eine einzige Baugrube, er hätte stehen können, wo er wollte, überall hätte er an einer Baustelle gestanden, als sie seine Heimat zuplanierten, in die er sich dann vielleicht noch mehr verliebt hätte. Eine Heimat nicht nur mit Wald und Vögeln und Forsthäusern, sondern auch, wo man geht und steht, einer Großbaustelle mit ganz vielen Arbeitern und dem schweren Gerät auf Schritt und Tritt. Einmal brachte er meiner Mutter eine Holzplakette als Geschenk mit, eine Scheibe aus einem Baumstamm, darauf eine Inschrift, mit Brennstift eingeschrieben (eigentlich sah es brutal aus, es war eine Brandspur, wie wenn man ein Rind mit einem Brandeisen prägt, man hört noch das Zischen, und jetzt hast du dein Zeichen und wirst es nie mehr los):
Dehaam is dehaam!
Das heißt bei uns: Daheim ist daheim. Hätte das mein Onkel noch erlebt: Erst die Baustelle, und dann mit dem Variant über die neue Ortsumgehung, geradeaus von Nieder-Mörlen bis Wöllstadt. Er wäre einer der ersten gewesen, schon am
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