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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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jemand), ausgenommen im Paradies (da war auch jemand oder wenigstens etwas auf dem Papier).
    Bei seiner Mutter meldete er sich jeden Tag ab. Sie wußte immer, wann er ging, wann er kam, wie lange er wegblieb. Sie mußte ihn nicht einmal dazuauffordern, sich an- und abzumelden, es war noch ganz dasselbe Verhältnis zwischen beiden wie zu der Zeit, als er noch gar nicht im Rheinland war, als er noch zu seinen jüngeren Geschwistern flüchten sollte und doch meistens stehenblieb. Diese unbedingte, pflichtmäßige Angebundenheit an seine Mutter ragte in seine Seele wie etwas Metaphysisches und war völlig unhintergehbar. Das war für mich immer berührend, daß er als Person gar nicht in sich geschlossen, sondern auf eine andere Person hin geöffnet war. Das machte ihn zeitlebens so schuldlos. Ein Mensch ohne Sündenzusammenhang. (Auch wenn er, wie gesagt, manchmal schuldig schauen konnte wie ein erwischter Hund.) Er war ja nie verantwortlich. Als hätte ihm die Zange den Sündenapfel gleich wieder aus dem Mund genommen, den kriegst du nicht, du nicht, als das erste Wort Gottes bei der Geburt. J. hatte zu allem dasselbe Verhältnis: Er ging wehrlos unter. Bei seiner Mutter, vielleicht morgens am Bahnhof schon am Kiosk, vielleicht in Frankfurt auf der Post bei seinen Kameraden, entweder indem er mit ihnen ganz ordentlich blieb, was möglich ist, oder indem er mit ihnen ganz säuisch wurde, was ebenfalls möglich ist.
    Damals rauchten sie noch. Es war die Hochphase der Filterzigarette in Deutschland. Auf der Post rauchten sie vermutlich wie die Schlote. Man hatte die Zigarette im Mund, wenn man die Pakete schleppte,man hatte sie im Mund, wenn man Formulare abhakte, man hatte sie im Mund, während man Pause machte, und alle hatten gelbe Finger. An die gelben Finger meines Onkels erinnere ich mich besonders, es waren die ersten gelben Finger, die ich in meinem Leben gesehen habe. Das muß man sich zum Silagegegeruch immer hinzudenken: den Tabakgeruch. Die Filterzigarette war ein Kommunikationsmittel, das hatte sie groß gemacht. Weil es zwischen den Menschen nicht reichte, mußte noch etwas hinzukommen, das war die Filterzigarette. Sie überdeckte die Anfangsleere. Sie war ein trockener Schnaps. Mein Onkel rauchte zu seinen besten Zeiten drei Päckchen am Tag, wie viele damals. Erst der Filter hatte das massenhafte Zigarettenrauchen möglich gemacht. Er machte alles so leicht. Zum täglichen Lebensbild Deutschlands gehörte dazu, daß das Land dampfte. Und bis heute glaube ich, daß jede dieser Filterzigaretten eine Depression aufhob. Deshalb das Gefühl des Schwebens, das sich einstellt beim Zug an der Filterzigarette. Es ist immer etwas da, es birgt einen. Mein Onkel, der Geborgene. Nie war er in Frankfurt allein auf der Post, immer hatte er wenigstens seine Zigarette und konnte sich jederzeit eine anstecken. Und wie er hustete! Ein langer, zäher Husten, der nach hinten heraus stets feucht wurde, fast schlickig. Man hörte den Schleim in der Kehle wirbeln, übrigens traten seine Augen dabeisehr seltsam vor, als wollten sie aus ihm heraus. Als wollten sie ihn, den Onkel, einmal ansehen, von außen, und nicht nur immerfort von innen aus ihm heraussehen. Er rauchte viel zuviel, jeder wußte das, aber noch war er vergleichsweise jung, und er hatte ja keine Schmerzen, er kannte sie nicht. Schmerz, ein für ihn fremdes Wort. Auf dem Schmerzauge war er blind, sozusagen. Da sah er nichts. Mein Onkel hätte später fast seine Beine verloren, aber auch die totale Verstopfung seiner Blutbahnen hatte er nicht gespürt. Sie wurde zufällig festgestellt, ganz nebenbei. So wie auch ein Blinddarmdurchbruch bei ihm einmal ganz zufällig diagnostiziert wurde, nebenbei, er war gerade die Treppe hinuntergestürzt und deshalb zum Arzt gebracht worden. Beides, Sturz wie Durchbruch, tat nicht weh. Auch heiße Herdplatten taten nicht weh, er merkte erst am Geruch, was er da wieder getan hatte. Auch die Schulschlägereien verursachten ihm ja keine Schmerzen, sie verletzten ihn nur. Er blutete, er war mit blauen Flecken übersät, und gern traten sie ihm in die Seite, wenn er am Boden lag, aber Schmerzen waren es nicht. Es machte ihn nicht einmal traurig. Es machte ihn nur traurig, daß es die anderen traurig machte, wenn er blutete oder sich verbrannte, seine Geschwister, seine Mutter. Seine Familie hatte da schon begriffen, daß es um etwas ganz anderes ging als nur darum, ihn von Prügelschmerzen fernzuhalten. Es ging ums Überleben.Hätten

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