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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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den fünfziger oder sechziger Jahren, da rettete man, soviel wußte mein Bruder bereits, gemeinhin mit dem Hubschrauber. Bei einem Unwetter wie diesem hochgefährlichen Unwetter sei es zu gefährlich, wenn die Bergrettung in die Steilwand fliege, sagte mein Onkel und träumte sich in jede Silbe seines Satzes hinein, während er ihn aussprach. Das konnte man, das konnte er in Friedberg in der Wetterau sagen, solche Worte, vor dem Fernseher und von ihm gebannt: Unwetter … hochgefährlich … Steilwand … Bergrettung … In der Wetterau saß er und sprach vom Berg und war selig. Warum ist es zu gefährlich, fragte mein Bruder. Es ist eine Steilwand, sagte mein Onkel in seinem fachkundigen Tonfall, eine ganz steile Wand, und der starke Wind (wie die Schneeflocken wirbeln!), da kann man die Maschine nicht steuern, sagte er, als wüßte er all das. Und dann rutschte ihm auch noch der Satz heraus, die von der Bergrettung seien die wahren Helden der Gegenwart. Auch seine Poesie neigte zum Superlativischen. Es waren großeMänner, die Bergretter, und mein Onkel kannte sich unter ihnen aus, vor unserem Fernseher sitzend und, ergriffen vom Berg und der Bergrettung, in ihn hineinschauend. Immer wollte, immer mußte er dazugehören wollen, mein Onkel, auch hier. Immer lief er ins offene Messer mit seiner Sehnsucht danach, als könnten die Dinge auch für ihn so sein, wie sie (vielleicht) für andere waren (die Bergretter?). Am liebsten wäre er vielleicht jetzt auch im Berg gewesen, in unserem Wohnzimmer. Nicht in der Fünferseilschaft, aber schnell hinterher, technisch perfekt kraxelnd und mit Selbstaufopferung, heldisch groß und selbstvergessen, aufopferungsvoll wie vielleicht vorher die deutsche Wehrmacht, die in Rußland ja schließlich auch nur am Winter scheiterte, leider ohne Bergrettung, und von denen konnte mein Onkel auch reden, von den Tante-Ju-Fliegern, die todesmutig die Soldaten aus dem Kessel herausgeholt hatten, bis zum letzten Augenblick, solche Wendungen liebte er, in solchen Wendungen lebte und erglühte er: bis zum letzten Augenblick, bis zur totalen Aufopferung. Mit Sicherheit hatte er Fliegerhelden-, Kapitänshelden-, Panzerhelden-, mit Sicherheit hatte er Rommelgedanken, wie er auch Steinmetzgedanken hatte und den Kranführer auf dem Firmengelände bewunderte wie sonst nur noch die Friedberger Polizisten, die immerhin Uniform trugen und Waffen hatten, ähnlich wie die Jäger oben im Forsthaus Wintersteinoder im Jagdhaus Ossenheim, wo J. immer hinging. Warum sind die Bergretter die Helden der Gegenwart, fragte mein Bruder, und jedem Menschen außer meinem von seiner Schicksalszange auf die Welt geholten Onkel wäre in diesem Augenblick klar gewesen, was binnen wenigen Minuten der Ausgang der Sache sein würde, nämlich daß der Onkel toben und uns bis zum hintersten Gartenzaun verfolgen würde, um dort auf uns einzudreschen, weil wir ihn um seinen Film und seine Bergrettung gebracht haben. Mein Onkel aber, nichtsahnend, antwortete, wie er immer antwortete, wie ein Kind und ohne jeden Argwohn. Die Bergretter sind Helden, weil sie in Bergnot geratene Menschen retten, unter Einsatz (hier wurde seine Stimme raunend und feierlich) ihres Lebens. Mein Bruder: Die Bergretter müssen also in den Berg, weil dort Leute sind, die nicht weiterkommen? Mein Onkel: Die holen sie zurück, unter Einsatz ihres Lebens . (Er guckte dabei immerfort nur aufs Bild und das Geschehen dort.) Mein Bruder: Wenn die Bergrettung sich deshalb in Gefahr begibt, weil andere sich völlig ohne jeden Grund in Gefahr bringen, warum verbietet man dann den anderen nicht einfach, sich in Gefahr zu begeben? Mein Onkel stutzte und runzelte die Stirn. Mein Bruder: Wenn man diese ganze Scheißbergsteigerei einfach verbieten würde, dann gäbe es auch keine Bergrettung, das sei doch alles völliger Unsinn. Wozu steigen denn dieLeute auf Berge, und wer zahlt denn dann die Bergrettung? Das ist doch alles so unglaublich doof, das braucht doch kein Mensch. Tatsächlich konnte sich mein Onkel nun wenigstens noch zu dem Ausruf versteigen: Du hast ja keine Ahnung! Du weißt doch gar nichts von der Bergrettung! Nun würde er gleich den Fangschuß bekommen. Da war mein Onkel in ein arges Unwetter hineingeraten an seinem Berg, und auch ich machte jetzt mit beim Abschuß des Onkels. Aha, fragten wir, was weißt du denn von der Bergrettung? Was weißt du denn, kurz gesagt, überhaupt vom Bergsteigen? Oder überhaupt nur von Bergen? Du kennst doch sowieso nur

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