Das Zimmer
Luis-Trenker-Bergsteigerfilm sah, seinem Hölderlinzustand mit anderen Mitteln. Auch in der Bergsteigerei kannte er sich aus, glaubte er, superlativisch, und auch in der Bergrettung, die Bergretter waren für ihn Helden. Mein Onkel saß allein im Wohnzimmer und schaute vornübergebeugt und mit konzentriertem Blick den Luis-Trenker-Film, in einer Art Habachtstellung, immer zum Einsatz bereit, als sei er selbst bei der Bergrettung tätig, eben gerade in der Bergrettungshütte am Fuß des Berges, eben noch vielleicht einen kernigen, zünftigen Schnaps trinkend mit seinen auf den Berg konzentrierten Bergrettungskollegen, vor sich auf dem Wohnzimmertisch einen Henninger-Glaskrug mit Flasche daneben, halbgeleert. Erst beobachteten wir den erstarrten Onkel in seiner alpinen Verzückung oder Verzauberung eine Weile durch den Türspalt, bereits in Kicherlaune (er hat, glaube ich, nie die Berge gesehen in seiner einzigen Welt zwischen Rheinland und Wetterau, abgesehen vom Vordertaunus), dann schlüpfte zuerst mein Bruder, damals zwölf Jahre alt, ins Wohnzimmer hinein, in Erwartung der Situation, die folgen würde. Mein Bruder fragte sehr ernst und ohne eine Miene zu verziehen, was J. da schaue. J. erklärte ihm mit leuchtenden Augen den Film. Er war ein ausgesprochener Anhänger LuisTrenkers. Luis Trenker war zwar Italiener, aber Südtiroler, also für meinen Onkel doch irgendwie Deutscher. Keiner, der mit meinem Onkel auf die Poststation arbeiten gegangen wäre, keiner von diesen schwarzhaarigen Spaniern oder Italienern, obgleich Luis Trenker ja schwarze Haare hatte (mein Onkel übrigens auch). Luis Trenker immer einsam am Berg, bei Unwetter, im Hagel, allein in der Wand, und fünf Minuten später schon wieder über die gelbstichigen Almwiesen mit den röhrenden Hirschen laufend, und zu Hause wartet die Mutter (die Mutter hatte J. auch), und irgendwo wartet auch das Mädchen im Dirndlkostüm (das hatte J. nicht, obgleich seine späte Bettgenossin ja immerhin Rosl hieß, ein Name wie aus einem Trachtenfilm). Und nun war die Bergrettung bereits auf dem Weg, und Onkel J. erklärte meinem Bruder, wer wie wo gerade auf welche Weise und zu welchem Zweck auf welchen Gipfel unterwegs war, und daß sie in ein Unwetter geraten waren … und daß sie in diesem Unwetter nicht einmal biwakieren konnten, das Wort biwakieren sprach er mit einem ganz besonderen Gewicht aus, er streckte dabei seinen Zeigefinger aus und bewegte ihn bedeutsam hin und her. Auf dem Bildschirm eine Studiobergwand, davor Schneewehen, und immer wieder der Schnitt ins Tal. Sah man die Wand in Naturaufnahme, rief der Onkel, da, die Wand, eine ganz gefährliche Wand, vielleicht die gefährlichsteWand und die schwierigste Wand überhaupt. Kam die Bergrettung ins Bild, wie sie in der Wand kletterte bei ihrem Rettungsmarsch hin zu denen, die im Unwetter feststeckten und nicht einmal biwakieren konnten, jetzt, wo schon Nacht war im Studio und die Scheinwerfer heruntergeblendet waren, erglühte Onkel J.s Blick, und immer größere Anspannung ergriff seinen Körper. Ich kam nun ebenfalls ins Zimmer und setzte mich wortlos möglichst weit von J. entfernt in einen Sessel. J. starrte auf den Bildschirm, den Blick immerfort auf das wichtige Geschehen am oder besser im Berg gerichtet, wie es im Bergjargon heißt. Das Geschehen im Berg war auch Onkel J.s Geschehen, so saß er da in unserem Wohnzimmer. Da meine Eltern verreist waren, war J. gemeinsam mit meiner Großmutter als Aufsichtsperson abgestellt worden. Es muß die Zeit gewesen sein, als er noch nicht in dem Maße roch wie später, sonst hätten wir es nicht mit ihm im Wohnzimmer ausgehalten und vermutlich im gesamten Haus nicht. Seine Mutter hatte ihn zur körperlichen Reinigung gezwungen, vermutlich war er in der Uhlandstraße murrend und zischelnd zur Dusche in seinen Bezirk, den Keller, hinuntergegangen. Eine Fünferseilschaft, rief J. aus. Im Berg die Fünferseilschaft, ohne Biwak, und hinterher als schneller Rettungstrupp, mobil und gewandt, die Bergrettung. Man sah die Fünfergruppe in der Bergwand, während von oben jemand etwas, daswie Schneeflocken aussehen sollte, auf sie blies. Für uns war das alles unfreiwillig komisch. Da lagerten sie, verzweifelte Gesichter; dann sah man, immer nach oben strebend, immer aufwärts, die Bergrettung. Das waren Kletterer! Warum, fragte mein Bruder, fliegen sie denn nicht mit dem Hubschrauber? Warum rettet die Bergrettung nicht mit dem Hubschrauber? Immerhin spielte der Film in
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