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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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den Winterstein. Wir betonten das du so, wie er sein ich betonte, wenn er in den Keller gehen mußte. (Der Winterstein liegt vor unserer Haustür und ist dreihundert Meter höher als die Stadt gelegen, flach ansteigend, eine Bergrettung gibt es da nicht, nur eine Panzerstraße und ein Wirtshaus.) Kurz, wir führten, mitleidslos wie wir waren, unseren Onkel von seiner Bergwand weg und zurück auf seine eigentliche Existenz, wir raubten ihm alles und selbst noch die Bergrettung, weil wir unseren Onkel schon seit Jahren begriffen hatten und diese Mischung aus Cholerik und Begeisterung, wenn sie explodierte, für uns nicht weniger spektakulär war als das alljährliche Silvesterfeuerwerk, das wir aber schon gar nicht mehr mochten, weil es uns inzwischen langweilte. Mein Onkel standnun im Wohnzimmer, hob drohend die Hand zur Ohrfeige, war über und über rot, zitterte und schaute uns ebenso aggressiv wie hilflos an, der Arme, und wir waren daran schuld, und ich hatte wieder mitgemacht. So war er, J., als Kind nie gewesen, er hätte nie jemanden gequält. Und jetzt, da er ein Erwachsener war, nahmen nicht einmal wir Kinder ihn ernst, erst recht als Aufsichtsperson nahmen wir ihn nicht ernst. Nicht einmal sein Erwachsensein, vielleicht das einzige, was er nach der überstandenen Wetterau und der Rückkehr aus der Rheinlandemigration hatte, ließen wir ihm, und ich war doch gerade einmal sieben. Mein Bruder war damals bereits in einer politischen Jugendgruppe tätig, irgendwo im Umkreis seiner ersten Partei, vielleicht sogar schon Jungmitglied, er konnte bereits diskutieren, mit zwölf, er hatte seine Rhetorik, auch wenn er damit wahrscheinlich noch gegen niemanden ernsthaft punkten konnte, aber meinen Onkel vernichten, das konnte er schon (und ich mit dabei). Wir zerlegten ihn bei seinem Luis-Trenker-Film, wie mein Großvater die Weihnachtsgans zerlegte, und es war für uns ebenso festlich, es war ein virtuoses Onkel-Zerlegen, wir konnten es in den verschiedensten Situationen, es war ja leicht zu sehen, wie das Pulverfaß, das er war, angezündet werden konnte. Stand er draußen im Garten bei uns und redete superlativisch über den Garten, den der Schwager neu gestaltet hatte, dann konnteselbst da mein Bruder einen, wie man sagt, Anknüpfungspunkt finden, um ihm, dem Onkel, den superlativischen Garten gleich wieder auszureden, ich dachte damals: lernt man so etwas bei der Partei? Daß mein Onkel unseren Garten möglicherweise geliebt hat wie ich, daß er überhaupt möglicherweise Dinge geliebt hat, die ich auch geliebt habe, von den Rotkehlchen und den Nachtigallen bis hin zum Dachs und den Frauen oder vielleicht sogar allen Menschen, insofern sie infrage kamen, daß er, kurz gesagt, auch ein Leben hatte und von Gott in dieses Leben hinein geschaffen war, vom Dachs über die Bergrettung bis hin zur Sperre, seine eigene Mutter wirklich einmal ganz ernsthaft zu bespringen, auf diesen Gedanken kam ich erst später, aber da war es, wie meist, schon zu spät, und dann starb er ja auch bald. Kurz vor seinem Tod war er, glaube ich, dann auch noch von meiner Familie entmündigt worden, zur Sicherung des Erbteils und aus Angst vor einer Heirat mit Rosl. Was er hatte, gab er zum Schluß seiner Leidenschaft. Diese Rosl hatte ihr letztes Lebensjahr unentwegt Töpfe gekauft, und auch die mußten bezahlt und nach Rosls Tod von uns entsorgt werden, eine Wohnung voller Töpfe, bestellt in Katalogen quer durch ganz Deutschland, auch eine Leidenschaft und auch unstillbar bis zum Tod. Rosl starb im Bett neben meinem Onkel, Seite an Seite mit ihm. Der Tod trat um vier Uhr morgens ein, sagten die Ärzte. Mein Onkelhatte es nicht bemerkt. Er merkte es erst gegen acht Uhr und rief dann, orientierungslos, wie er stets war, erst einmal bei seiner Schwester an: Ursel, die Rosl ist tot.
    Noch ist alles nicht soweit, noch ist J. in Frankfurt auf der Poststation, irgendwo zwischen seinem zwölften und fünfzehnten Bier. Man zweifle nicht daran, daß er seiner Arbeit nicht ordentlich nachgekommen wäre. J. haßte immer, was er tun mußte, aber der Respekt vor seinen Arbeitgebern war ungefähr so groß wie der vor seiner Mutter. Da kam er nie heraus. Er war immer voller Respekt. In alles konnte er so etwas wie eine Wehrmachtsordnung hineindenken. Oder eine Jägerordnung. Man kann es aber genausogut auch andersherum sagen, vielleicht suchte er in seiner Umwelt so etwas wie seine Mutter, etwas so Großes, Unhintergehbares, und fand es in der deutschen

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