Das Zimmer
auf den Gedanken gekommen, über meinen geburtsbehinderten Onkel J. zu schreiben. Über ihn und sein Zimmer. Über das Haus und die Straße. Und über meine Familie. Und unsere Grabsteine. Und die Wetterau, die die ganze Welt ist. Die Wetterau, die für die meisten Menschen nach einer Autobahnraststätte benannt ist, A5, Raststätte Wetterau, und die heute in eine Ortsumgehungsstraße verwandelt wird. Die Wetterau ist eigentlich eine Ortsumgehungsstraße mit angeschlossener Raststätte. Wenn ich das sage, lachen sie. Und es war doch einmal meine Heimat. Meine Heimat, eine Straße. Und nun schreibe ich eine Ortsumgehung, während sie draußen meine Heimat ins Einstmals planieren, und ich beginne mit meinem Onkel in seinem Zimmer. Das ist der Anfang, aus dem sich alles ableitet. Das Zimmer, das Haus, der Ort, die Straße, die Städte, mein Leben, die Familie, die Wetterau und alles Weitere. Mein Onkel, der einzige Mensch ohne Schuld, den ich je kennengelernt habe. Eine Figur am Ausgang aus dem Paradies, noch mit einem Bein darin.
An meinem Onkel nahm man seine Behinderung (er war eine Zangengeburt) nicht sofort wahr. Er konnte sprechen, er sprach zwar nur einfache Sätze, aber das macht die gesamte Wetterau. Er kam bei gewissen Themen ins Reden. J. erzählte stets vom Wald, vom Forsthaus Winterstein, von den Jägern. Er konnte sämtliche Hirschgeweihe aufzählen, die im Jagdhaus Ossenheim an den Wänden hingen. Er kannte sich aus mit den Soundsoviel-Endern. J. trug überdies ständig einen jagdfarbenen Parka. Er erzählte auch mit Begeisterung vom Radio. Wenn etwas im Radio aus einer großen Stadt in Europa übertragen wurde, dann stand er vor der alten Radiotruhe (Telefunken), drehte den Empfangsknopf und kam sich dabei vor wie ein technischer Pionier, denn natürlich ist mein Onkel J. zeit seines Lebens ein Kind geblieben und empfand große Begeisterung für sämtliche technischen Dinge, wie ich nur ganz am Anfang meines Lebens, und auch nie in einem solchen Ausmaß. An Weihnachten suchte er Deutschlandfunk, da waren dann die Glocken des Stephansdoms aus Wien zu hören, und mein Onkel stand noch 1980 so vor dem Radio und den Glocken des Stephansdoms wie andere über zehn Jahre zuvor bereits vor dem Fernseher und der Mondlandung. Er rief dann geradezu andächtig, als müßten wir jetzt alle aufmerksam sein: Die Glocken des Stephansdoms! Tatsächlich taten ihm dann auch alle den Gefallen und hörten hin, aber freilich nur für wenige Sekunden. Mein Onkel stand auch gern vor Baustellen und schaute den Maschinen und den Arbeitern zu. Ins Gespräch mit den Arbeitern kam er nie, obgleich er gern mit ihnen gesprochen und gefachsimpelt hätte, als kenne auch er sich aus. So hatte er es oft in der Firma beobachtet: Zwei oder drei Arbeiter stehen beieinander und tauschen sich in Vokabeln aus, die allesamt etwas mit der Arbeit oder mit den Maschinen oder irgendeinem technischen Vorgang zu tun haben. Auf diese Weise dazuzugehören, das war die Sehnsucht seines Lebens. Als Jugendlicher durfte er kleine Tätigkeiten in der Firma verrichten, heißt es. Ich stelle mir Ablagetätigkeiten oder Botengänge vor. Mir wurde erzählt, mein Großvater habe ihn sogar Lohntüten transportieren lassen. Dennoch soll er ihn, ich weiß aber nicht zu welcher Zeit, mit einem Lederriemen traktiert haben. Mein Großvater Wilhelm, der musische Mensch mit dem Lederriemen. Über meinen Großvater Wilhelm heißt es zuerst immer: so ein musischer Mensch! Er,der letzte musische Mensch in unserer Familie (Klavierspieler, studierter Architekt), dann kam ich, ich gelte auch als musisch. Ja, musische Menschen stellen sie sich so vor wie mich oder meinen Großvater (den ich nicht kannte). Vielleicht gehört für sie der Lederriemen sogar unbedingt dazu, zum musischen Menschen. Mein Onkel war kein musischer Mensch, obgleich er Volksmusiksendungen sehr liebte und vor allem Heino. Heino war ein Mensch, der meinen Onkel glücklich machte, fast so glücklich wie manch andere der liebe Gott. J.s Augen begannen zu leuchten, wenn er Heino hörte, und seine Miene entspannte sich. Meistens hatte mein Onkel eine Grollmiene, er war ja auch meistens schlechter Laune oder stand kurz vor einem cholerischen Anfall, den wir als Kinder besonders gern auslösten, zu unserem eigenen Unglück, aber wenn er vor Baustellen stand oder Heino hörte oder Volksmusiksendungen schaute, die es damals noch nicht so zahlreich gab, dann war er gebannt und aufmerksam, wie in einer anderen
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