Das zweite Königreich
Blick früher oder später zu Richard. Und wenn du gesehen hast, daß der Prinz genauso dachte wie du – die Dinge aus englischer Sicht betrachtete, dann war ein zufriedenes, kleines Lächeln auf deinem Gesicht, und man konnte förmlich sehen, wie du dachtest: Eines Tages, eines Tages, wenn Richard König von England ist, wird sich alles ändern.«
Hunderte Gelegenheiten fielen ihm ein, da er genau das gedacht hatte, und er spürte schon wieder einen Kloß im Hals, den er mühsam hinunterwürgte. »Ja. Genauso war es. Es ist erst ein paar Tage her, daß ich mit ihm darüber gesprochen habe. Deine Stunde kommt auch noch, habe ich zu ihm gesagt. Ich … habe mich getäuscht.«
Sie fuhr ihm über den Kopf, und es war einen Moment still. Dann sagte sie leise: »Nun wird es Rufus’ Stunde sein. Ihr alle neigt dazu, ihn zu vergessen.«
Cædmon atmete tief durch, sog ihren Duft ein, der sich wie Balsam auf seine Sinne legte, und dachte einen Moment nach. »Rufus … ist ein heller Kopf und teilt die Vorurteile seines Vaters gegen England nicht. Aber er liebt England auch nicht besonders. Rufus liebt vor allem Rufus.«
»Mag sein. Ich kenne ihn nicht wirklich gut. Aber genau wie ihr Rufus vergeßt, vergeßt ihr Henry.«
»Henry ist acht Jahre alt.«
»Aber das wird er nicht immer bleiben. Und dann ist da immer noch Robert. Er ist der einzige Sohn des Königs, den der gleiche brennende Ehrgeiz treibt wie seinen Vater. Schon jetzt regiert er die Normandie praktisch allein. Aber das wird ihm nicht reichen. Wenn der Tag kommt, da ein Nachfolger für den König bestimmt werden muß, wird Robert Ansprüche geltend machen, glaub mir. Und ich bin nicht sicher, daß einer seiner Brüder ihm gewachsen ist, auch Richard wäre das nicht gewesen.«
Cædmon schüttelte den Kopf. »Mag sein. Ich weiß es nicht. Ich glaube, es ist mir im Moment auch ganz gleich, Aliesa. Ich vermisse den Jungen so furchtbar. Ich weiß, es wird vergehen, aber im Moment ist mir egal, daß Richard nicht König von England wird. Der Grund, warum ich hier sitze und heule wie ein Bengel, ist, daß ich ihn nie mehr wiedersehe.« »Ich weiß.« Sie nahm seine Hand und drückte sie an ihre Wange. »Ich weiß, mon amour. «
Eine kleine Weile hüllte er sich noch in den Trost ihrer Gegenwart wie in einen wärmenden Mantel, aber dann stand er auf und zog sie mit sich in die Höhe. »Besser, wir gehen. Heute nacht finden so viele keinen Schlaf, irgendwer könnte uns sehen.«
Sie küßte ihn, schlang die Arme um seinen Hals und preßte sich an ihn. »Komm morgen nach Mitternacht in die Leinenkammer«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
»Abgemacht.«
Sie betteten Richard in der Kirche des alten Klosters von Winchester zur letzten Ruhe. Lanfranc war aus Canterbury zurückgekehrt und hielt zusammen mit Odo das Requiem. Es war eine stille, würdevolle Zeremonie, und viele fanden Trost darin.
Still und würdevoll ging es auch beim anschließenden Essen zu. Die Tischgespräche in der etwa zur Hälfte gefüllten Halle waren gedämpft. Die Königin, die der Beisetzung ihres Sohnes trockenen Auges beigewohnt hatte, saß bleich und still an ihrem Platz und rührte die Speisen nicht an. Gebrochen, aber gefaßt, dachte Cædmon, genau wie meine Mutter damals, nachdem Vater bei Hastings gefallen ist.
Was der König empfand, war wie immer unmöglich zu sagen. Cædmonwar überzeugt, daß er um Richard trauerte, aber man merkte es nur daran, daß seine Zunge noch schärfer war als gewöhnlich und sein Jähzorn leichter entflammte. In der Kirche hatte er den achtjährigen Henry geohrfeigt und hinausgeschickt, weil der kleine Junge nicht aufhören konnte zu weinen, als sie seinen großen Bruder in das kalte, steinerne Grab legten.
Rufus schien so abwesend und teilnahmslos, daß Cædmon sich fragte, ob der Prinz vielleicht sinnlos betrunken war. Doch er verwarf den Gedanken, als Rufus sich von seinem Platz an der hohen Tafel erhob und sich bedächtig an seinen Vater wandte. »Sire, darf ich sprechen?« William hob stirnrunzelnd den Kopf, nickte aber.
Rufus holte tief Luft und räusperte sich. »Vater, ich weiß, daß lange Reden Euch mißfallen, aber was ich Euch und dem Hof zu sagen habe, fällt mir sehr schwer, und ich bitte Euch um ein wenig Geduld.«
Eadwig, der auf der Bank weiter unten saß, stand unvermittelt auf. »Rufus, um Himmels willen …«
Rufus blinzelte fast unmerklich, warf dem Freund einen unglücklichen Blick zu und sah sofort wieder zu seinem Vater.
Der
Weitere Kostenlose Bücher