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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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gehört er Euch, Lucien.«
    Die Soldaten packten Cædmon bei den Armen und zerrten ihn zur Tür, dabei ging er ganz folgsam mit ihnen. Er konnte nicht viel anderes tun, denn er war vollauf damit beschäftigt, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Etienne, was tust du mit ihr, war der einzige Gedanke, dessen er fähig war, was tust du mit ihr …
    Das letzte Gesicht in der Halle, das er sah, ehe er endgültig den Kopf senkte, war das seines Bruders. Eadwig stand bleich und stockstill an seinem Platz. Aber es war nicht Cædmon, den er anstarrte, sondern Rufus.
     
    Die Wachen brachten Cædmon in den Hof hinaus. Dankbar atmete er die kühle Abendluft ein, ehe sie ihn eine Treppe hinab- und in einen kleinen, von einer einzelnen Fackel erhellten Wachraum hineinzerrten, wo rostige Ketten unterschiedlicher Länge von Haken an der Wand hingen. Der Sergeant, der an dem wackeligen Tisch in der Wachkammer bei seinem Abendessen gesessen hatte, erhob sich umständlich, schätzte mit geübtem Kennerblick Cædmons Größe und wählte zwei aus. Er verstand sein Geschäft. Als die kalten, vom Rost rauhen Schellen die Hand- und Fußgelenke umschlossen, hatten sie gerade noch genug Spiel, um den Blutfluß nicht abzuschneiden. Der Sergeant verscheuchte den Gefangenen samt Begleitern mit einem mißgelaunten Brummen und einem ungeduldigen Wedeln, und die Wachen brachten Cædmon einen kurzen, dunklen Gang entlang zu einer Tür.
    Lucien war ihnen gefolgt. »Nein, nicht da hinein. Eins weiter«, befahl er.
    Die Soldaten führten Cædmon zur nächsten Tür, der eine zog den Riegel zurück und öffnete, und der andere stieß ihn vorwärts. Cædmon stolperte über die Schwelle, geriet durch die ungewohnten Fußfesseln ins Straucheln und fiel hart auf den festgestampften Lehmboden.
    Lucien folgte ihm mit einer Fackel in der Hand, die er in einen Eisenring an der Wand steckte. »Verschwindet«, herrschte er die Wachen an, und sie zogen sich hastig zurück und lehnten die schwere Eichentür an.
    Cædmon richtete sich halb auf und sah sich um. Er hatte in seinem sechsundzwanzigjährigen Leben mehr Verliese gesehen, als die meisten Gevattern von sich behaupten konnten, aber dieses, erkannte er auf einen Blick, war von allen das grausigste. Kein Fenster, kein noch so winziges Luftloch verband es mit der Außenwelt. Der Boden war feucht und schien eisige Kälte auszustrahlen, Schimmel leuchtete grünlich an den Wänden. Die eisenbeschlagene Tür war massiv und unüberwindlich. Dicke steinerne Pfeiler stützten das Gewölbe, denn der Raum war verhältnismäßig groß. Doch wenn die Fackel ausgebrannt war, würde ihm das wenig nützen. Er sah, daß die Finsternis vollkommen sein würde. »Warum hier und nicht nebenan?« fragte er.
    »Ich brauche Platz«, erklärte Lucien und sah ihn konzentriert an.
    Cædmon rieb sich das Kinn an der Schulter und unterdrückte ein Schaudern. »Ich wünschte, du würdest gehen und Etienne hindern, irgend etwas zu tun, das er nachher bereut. Komm einfach später wieder, he?«
    Lucien schüttelte langsam den Kopf. »Was immer Etienne tut, ist sein Recht. Und was immer aus meiner Schwester wird, verdankt sie allein dir.«
    Cædmon nickte und wollte sich aufrichten, aber ein harter Tritt traf ihn an der Schulter, und er fiel zur Seite.
    »Bleib unten, du würdest doch nicht lange stehen«, sagte Lucien leise. Er griff mit der einen Hand, die ihm geblieben war, unter seinen dunklen Mantel und zog sie mit einer eingerollten Ochsenpeitsche wieder hervor.
    »Weißt du noch, was ich dir gesagt habe, als du mein Pferd gestohlen hast?« fragte Lucien und schüttelte sie aus, bis das lose Ende wie eine dünne Schlange auf dem dunklen Boden lag.
    »Nein, nicht mehr so genau. Das ist über elf Jahre her, Lucien.«
    »Stimmt. Es ist eine lange, lange Rechnung, Cædmon.«
    Er trat einen Schritt zurück, maß mit konzentriert zusammengekniffenen Augen die Entfernung und glitt noch einen halben Schritt nach hinten. Cædmon legte schützend die Arme um den Kopf, nahm seinen Ärmel zwischen die Zähne und bezahlte seine Rechnung.
     
    Er existierte form- und zeitlos in Schmerz und Dunkelheit, verlor sich in wirren, lichten Traumbildern, stunden- oder tagelang, er wußte es nicht. Er träumte von seiner Kindheit in Helmsby, Erinnerungen, die er längst vergessen hatte, dann wieder Dinge, die er sich erträumt hatte und die nie eingetreten waren, von Richard, von Aliesa, von dem Kind, das sie verloren hatten, und in seinen Träumen war dieses

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