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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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gesichts- und geschlechtslose Ding, das sie beinah umgebracht hätte, ein kleines Mädchen mit dunklen Locken und graugrünen Augen. Und manchmal war er so weit entrückt, daß er in der Ferne einen Korridor zu sehen glaubte, aus dem ein gleißendes Licht strömte, das aber die Augen nicht blendete. Er fühlte sich magisch angezogen von diesem Licht und schien ihm jedesmal näher zu kommen, um dann doch letztlich immer nur zu Schmerz und Dunkelheit zurückzukehren. Bis der Schmerz schließlich nachließ und Eadwig kam und mit seiner Fackel die Dunkelheit vertrieb.
    Anders als das Zauberlicht in seinem Traum stach ihm das der Fackel gleißend in die Augen, und Cædmon blinzelte viele Male, ehe er seinen Bruder erkennen konnte, der wie vom Donner gerührt an der Tür stand und eine Hand auf den Mund gepreßt hatte.
    »O Jesus Christus … Cædmon!«
    »Also wer nun?« Sein lahmer Scherz mißglückte vollends, weil seine Stimme nur ein dürres Krächzen war, und er räusperte sich. »Fall mir bloß nicht in Ohnmacht, Junge. Und … starr mich nicht so an.«
    »Entschuldige.« Eadwig gab sich einen Ruck, kniete sich neben den Bruder, hob behutsam dessen Kopf an und hielt ihm einen Krug an die Lippen.
    Cædmon trank gierig. Er war vollkommen ausgetrocknet.
    Eadwig setzte den Krug ab. »Schön langsam. Ich wäre eher gekommen, aber sie haben mich nicht zu dir gelassen.«
    »Nein.« Cædmon keuchte, als sei er eine weite Strecke gerannt, stützte sich aber aus eigener Kraft auf einen Ellbogen und trank noch einenlangen Zug. Dann sagte er: »Vermutlich haben sie befürchtet, ich würde ihnen verrecken, und in dem Fall hätten sie es vorgezogen, dir ein schönes Märchen zu erzählen.«
    »Ich sorge dafür, daß der König hiervon erfährt«, stieß sein Bruder wütend hervor. »Er würde niemals gutheißen …«
    »Das wirst du nicht tun. Er heißt es gut, sei versichert. William glaubt fest daran, daß er den Menschen letztlich einen Dienst erweist, wenn er sie auf Erden für ihre Sünden büßen läßt.« Er schwieg einen Augenblick. »Wer weiß. Vielleicht hat er recht. Was ist mit Aliesa?«
    Eadwig hob kurz die Schultern. »Etienne hat ihr kein Haar gekrümmt. Gut informierte Quellen, das heißt, die Mägde, die sich an der Tür die Ohren plattgedrückt oder durch einen Spalt spioniert haben, berichten, daß sie es die ganze Nacht getrieben haben wie die … ähm, entschuldige, Cædmon.«
    »Ja. Schon gut. Weiter.«
    »Am nächsten Morgen hat er den König wissen lassen, daß er sie nicht wiedersehen will. Der König hat sie seinem Bruder übergeben. Das Gesetz sagt, bei Ehebruch soll der Bischof die Frau bestrafen und der König den Mann. Aber William wollte es nicht dem Bischof von Winchester überlassen, sondern hat die Sache lieber Odo anvertraut. Er schickt sie nach Caen ins Kloster.«
    Cædmon bettete den Kopf auf die Arme und schloß die Augen. »Fort aus England.«
    Eadwig antwortete nicht. Mit erstaunlich geschickten, sanften Händen streifte er seinem Bruder das zerfetzte, blutverschmierte Übergewand ab, soweit die Ketten es zuließen, und wusch ihm mit lauwarmem Wasser aus einem Eimer, den er mitgebracht hatte, das getrocknete Blut vom Körper. Brust, Rücken und Arme waren mit schauderhaft tiefen Striemen übersät, die sofort wieder zu bluten begannen.
    »Gott verdamme Lucien de Ponthieu«, brachte Eadwig gepreßt hervor. »Was für ein Monstrum er ist.«
    Cædmon stützte die Stirn auf die Faust und antwortete nicht. Ausnahmsweise war er einmal nicht in der Stimmung, Lucien de Ponthieu in Schutz zu nehmen.
    Eadwig hängte ihm behutsam eine Decke um die Schultern. »Eisig kalt hier unten. Sieh zu, daß du dir nicht den Tod holst.«
    »Vielleicht wäre es das beste.«
    »Cædmon … reiß dich zusammen.«
    »Ja. Gleich.«
    Es war eine Weile still. Schließlich hob Cædmon den Kopf, nahm den Krug in beide Hände und trank. Zum erstenmal registrierte er, was seine Zunge schmeckte: Es war süßer Met. Alle Engländer schworen darauf; er war das Allheilmittel in jeder Lebenslage, Seelentröster in der größten Not.
    Er reichte seinem Bruder den Krug, und auch Eadwig nahm einen tiefen Zug. »Fast leer. Ich besorge neuen.«
    »Und wie geht es weiter? Bin ich enteignet?«
    Eadwig schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein. Der König geht nächste Woche zurück auf den Kontinent. Er hat Bischof Odo angewiesen, dich mit nach Dover zu nehmen und dort einzusperren. Er scheint wirklich zu befürchten, daß du ihm

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