Davids letzter Film
ziehen.
Der Abend mit der VH S-Kamera hatte in einer Zeit stattgefunden, in der sich David und er bereits seit Wochen den Kopf über die Arbeit an einem Drehbuch
zerbrochen hatten.
Natürlich war es Davids Einfall gewesen, sich auf das Schreiben eines Skripts zu konzentrieren. Flo erinnerte sich noch genau:
Bei ihrem Drehbuch, so hatte David mit dem ihm eigenen Purismus verkündet, gehe es nicht darum, ob der Film jemals produziert
werden würde. Von diesen Überlegungen sollten sie sich bei ihrer Arbeit nicht ablenken lassen. Entscheidend sei nur eins:
Dass sie ein Skript entwickelten, das so spannend, innovativ und aufwühlend wie möglich sein würde. Sie sollten dafür auch
ein ganz bestimmtes Genre wählen, und zwar das Science-Fiction-Genre, das in Deutschland seit Langem vollkommen brachliege.
Ein S F-Knaller , der jedem, der ihn einmal gesehen hat, nicht mehr aus dem Kopf geht –
das
war es doch, was sie entwickeln sollten. So etwas wie »Blade Runner« eben oder »Total Recall«!
Am Ende aber war es Florian gewesen, der die zündendeIdee für ihr Drehbuch gehabt hatte. Auf diese Idee war er gerade durch den Besuch des Freundes mit der Videokamera gebracht
worden. Und genau damit, wie sie seine Idee ausgearbeitet hatten, ging der Film, den er jetzt sah, weiter.
Detailgenau hatte David nachinszeniert, wie Flo ihm die Idee zum ersten Mal vorgestellt hatte. Es war am darauffolgenden Abend
gewesen. Sie hatten in der Küche gesessen, jeder ein Bier in der Hand, und Flo hatte seine Idee kurz skizziert.
Du musst dir einen Helden vorstellen, hatte er gesagt – und genauso sagte es jetzt auch der Flo im Film, während er und David
sich am Küchentisch gegenübersaßen –, du musst dir einen Helden vorstellen, der als Baby ein Auge verliert. Okay? Jetzt der entscheidende Punkt: Von seinem Vater,
der Arzt ist, bekommt er als Ersatz für das Auge eine
Miniaturkamera
in die Augenhöhle eingesetzt. Wohlgemerkt, als er noch ein Baby ist. Da der Film ja in der Zukunft spielen soll, ist es ganz
unproblematisch, sich die technische Realisierung einer solchen Miniaturkamera vorzustellen. Wichtig ist nur, dass jeder Blick,
jeder Augenblick des Helden – und das seit frühester Kindheit – so aufgezeichnet wird, wie er ihn erlebt! Und die entscheidende
Frage, die den ganzen Film dann durchziehen wird, lautet, wie sich diese besondere Form der Erinnerung auf das Leben des Helden
auswirkt!
David war auf Anhieb begeistert gewesen. Damals, als Flo ihm die Idee vorgestellt hatte, und jetzt wieder, in dem Film, den
Florian sah. Die Geschichte war genau nach Davids Geschmack. So ein Held würde ja über
zwei
Sets von Erinnerungen verfügen, schwärmte er. Einmaldie objektiven, die er auf Band hat, und einmal die subjektiven, die er sozusagen nur in der
Innenschau
abrufen kann.
Flo freute sich, dass dem anderen seine Idee so gut gefiel. Aber er kam nicht zu Wort. David war nicht mehr zu bremsen. Vor
allem, brainstormte er weiter, wäre es doch spannend, wenn den Helden plötzlich das Gefühl beschleicht, die aufgezeichneten
Erinnerungsbilder würden in einem bestimmten frühen Abschnitt seines Lebens von seinen subjektiven Erinnerungen
abweichen
. Wenn ihn also der Verdacht beschleicht, die aufgezeichneten Bilder seien
manipuliert
worden. Diesen Verdacht kann er aber nicht ohne Weiteres erhärten. Warum? Weil ihm dazu ja nichts anderes als die
subjektiven
Erinnerungen bleiben, die sich aber, je mehr man versucht, sie zu fassen zu bekommen, immer mehr zu verformen scheinen. Oder?
Der Florian im Film zögerte, so wie Flo damals gezögert hatte. Verstand er genau, was David meinte?
Nehmen wir an, so schlug der Film-David vor und vibrierte förmlich vor Aufregung – und auch dies entsprach den Ereignissen,
an die sich Florian nur zu gut erinnerte –, nehmen wir an, der Held hat sich immer wieder gerne seine aufgezeichneten Erinnerungsbilder angesehen, so wie wir uns gerne
Erinnerungsfotos anschauen. Im Alter von vierzehn, fünfzehn Jahren, in der Pubertät also, fällt ihm zum ersten Mal auf, dass
mit den Bildern, die aus seinem dritten und vierten Lebensjahr stammen, irgendetwas nicht stimmt. Also mit Bildern, die aus
einer Zeit herrühren, an die er sich subjektiv nur noch sehr schwach und vage erinnert.
Er befragt seine Eltern, aber sie behaupten, dass sichnichts Außergewöhnliches in jener Zeit ereignet habe. Unser Held jedoch lässt nicht locker. Tagelang, wochenlang
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