Davids letzter Film
nicht mehr die Wut eines Freundes. Das war blanker, blinder, gnadenloser Hass.
»WAS WILLST DU DENN NOCH?«, raste er. »SOLL ICH DIR VIELLEICHT NOCH DEN ARSCH ABPUTZEN, DU ARMSELIGER SACK? ODER REICHT’S
JETZT LANGSAM MAL?«
Flo zitterte. Ihm war der Schweiß ausgebrochen, seine verklebte Hand klammerte sich um den Hörer. Er spürte,wie es in ihm bröckelte. Alles, worauf er sein Leben lang stolz gewesen war, schien plötzlich sinnlos zu werden. Alles, was
er angepackt hatte, schien sich in einen Haufen Dreck und Müll zu verwandeln. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Sie kannten
sich, seit sie Kinder waren. David war wichtig für ihn, er liebte ihn in gewisser Weise wie einen Bruder. Aber David hatte
nichts Besseres zu tun, als ihm mit voller Wucht ins Gesicht zu treten. Zum ersten Mal schien er zu zeigen, was er wirklich
von ihm hielt. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, unfähig, zu verarbeiten, was gerade geschah, starrte Flo auf den
Hörer.
Da knackte es in der Leitung, rauschte, knackte noch mal, noch mal und noch mal – David schien den Hörer mit voller Wucht
auf den Tisch zu schlagen, ihn zerreißen, zermalmen, zertreten, zermatschen zu wollen.
Dann wurde es still. Die Leitung war tot.
Und im nächsten Augenblick wurde der Flachbildschirm in dem Schneideraum schwarz.
35
Wie betäubt blieb Florian in seinem Sessel sitzen. Die Erinnerung an diesen Streit hatte er immer gescheut. Stets hatte er
das Gefühl gehabt, dass er die Kränkung, die er damals erfahren hatte, noch so sehr in seinem Kopf hin und her wälzen konnte,
es würde nichts nutzen. Am besten war es, wenn er sie so weit wie möglich von sich wegschob. Aber je mehr er die Erinnerung
aus seinem Bewusstsein verdrängt hatte, desto milder hatte sie gewirkt, wenn sie sich dann doch einmal einstellte. Hatte er
sich die Heftigkeit des Streits nur eingebildet? Waren seine Nerven durch die Arbeit an der Reportage damals so gereizt gewesen,
dass ihm alles verzerrt und übersteigert vorgekommen war? Sicher, David hatte durchgesetzt, dass er als alleiniger Autor des
Skripts genannt wurde. Und Florian war – letztlich aufgrund ihres Streits – wenig später endgültig nach Spanien gezogen. Aber
hatte David ihn am Telefon wirklich regelrecht beschimpft?
Nachdem Florian das Gespräch jetzt in dem Film wiedergesehen hatte, war ihm klar, dass ihr Streit sich wirklich so unerbittlich
abgespielt haben musste, wie er unterschwellig immer gefürchtet hatte. Plötzlich war es wieder da: Das ohnmächtige Gefühl,
das ihn damals ergriffen hatte, als David ihn beleidigt hatte. Als er ausheiterem Himmel ihre Freundschaft in den Schmutz gezogen und mit Füßen getreten hatte. Plötzlich war sie wieder da, die Frage,
wie er einer Freundschaft nachtrauern konnte, wenn das das wahre Gesicht des Freundes war. Wäre es nicht besser gewesen, wenn
er David nie wiedergesehen hätte? Was wollte er von ihm? Wusste er nicht, was David für ein Typ war? Wie konnte er ernsthaft
daran glauben, sie würden etwas gemeinsam auf die Beine stellen? Offensichtlich hatte David diesen elenden Streit nicht vergessen.
Und nicht nur das: Offensichtlich war er ihm sogar so wichtig, dass er ihn mit großer Sorgfalt
nachinszeniert
hatte! Dieser verdammte Streit war das, worauf sein ganzer »Tabu«-Film hinauslief! Das hässliche Ende einer Freundschaft,
aufgekündigt aus krankhaftem Ehrgeiz, aus Missgunst und Selbstherrlichkeit!
Wie ausgepumpt starrte Flo auf den erloschenen Bildschirm. Er wusste nicht, was er David sagen sollte. Sollte er sich endlich
gegen die Art, wie David sich damals benommen hatte, zur Wehr setzen? Wenn David ihn wirklich brauchte, wenn er ihn nach Berlin
gelockt hatte, weil er ihn brauchte, konnte Flo es ihm dann jetzt nicht heimzahlen? Aber er sehnte sich gar nicht danach,
David etwas heimzuzahlen. Er war nur verletzt. Verletzt von dem, was damals vorgefallen war. Und verletzt, weil David diesen
Streit noch einmal hervorgeholt hatte. Warum hatte er das getan? Was wollte David von ihm? Am liebsten hätte sich Flo einfach
aus dem Staub gemacht. Stattdessen blieb er sitzen.
Es vergingen fast zwei Stunden, bis sich die Tür zum Schneideraum öffnete. David steckte den Kopf herein. »Hey, Flo, was machst
du denn?« Er knipste das Licht an.
Florian blinzelte. Der Augenblick im Kino, in dem das Licht angeht und man den anderen in die Augen sehen muss, war ihm schon
immer verhasst gewesen. Aber es
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