Davids letzter Film
beschäftigt
er sich mit den Aufzeichnungsbändern, untersucht akribisch jeden Augenblick seines Lebens als Kleinkind – und stößt tatsächlich
auf eine heiße Spur. Als Erstes fällt ihm auf, dass seine Mutter damals offenbar schwanger war. Auf den Bildern ist deutlich
ihr Bauch zu sehen. Dieser Bauch ist dann aber von einem Tag auf den anderen plötzlich verschwunden. Und als sich der Held
die Bilder, die ab diesem Tag gespeichert sind, genauer ansieht, stellt er fest, dass sie
gefälscht
sein müssen!
Woran er das erkennt? Daran, dass auf diesen Bildern nicht – wie sonst immer – ein Teil seines eigenen Körpers zu sehen ist.
Es gibt auf den gefälschten Bildern keine Selbstwahrnehmung von ihm, keine Hände, keine Füße, keinen Rumpf – etwas, das auf
allen anderen Erinnerungsbildern sehr wohl immer wieder am Rand auftaucht. Wie ist das möglich? Hat jemand die Bilder absichtlich
gefälscht und in die Erinnerungsarchive eingefügt? Wo aber sind dann die
echten
Erinnerungsbilder aus dieser Zeit? Und was ist darauf zu sehen?
Je länger sich der Held in seine Vergangenheit vertieft, desto überzeugter ist er davon, dass die Manipulation seiner Erinnerungsbilder
etwas mit dem plötzlichen Ende der Schwangerschaft seiner Mutter zu tun haben muss. Hat er ein Geschwisterchen bekommen, dem
der Vater, der Arzt, ebenfalls ein Aufzeichnungsgerät anstelle eines Organs eingepflanzt hat – so wie er dem Helden eine Kamera
eingepflanzt hatte anstelle des Auges? Einen Apparat zum Messen der Gehirnströme vielleicht, eine Magensonde zum Aufzeichnen
der Nahrungsaufnahme?Zu welchem unmenschlichen Experiment hat sich der Vater diesmal verstiegen?
Jetzt kennt der Held kein Halten mehr, fuhr der David im Film fort. Wieder und wieder bestürmt, beschuldigt, beschimpft er
seinen Vater, seine Mutter, die ja Komplizin gewesen sein muss, das hilflose Geschwisterchen auf dem Altar der Forschung geopfert
zu haben – bis sein Vater ihn eines Tages mit den echten Bändern konfrontiert. Und mit einem Mal muss der Held die wahren
Zusammenhänge erkennen. Denn auf diesen Bändern ist zu sehen, dass
er selbst
es ist, der das Schwesterlein in der Wiege erstickt. Er muss zusehen, wie er es als Kind damals gesehen hat. Muss zusehen,
wie er den Todeskampf des Babys wahrgenommen hat, wie seine Hände dem Kindchen das Kissen aufs Gesicht drücken. Aus Neid darüber,
dass das Schwesterlein kein Glasauge, kein Kameraauge hat so wie er.
Nachdem diese Idee einmal formuliert war, war David nicht mehr zu bremsen. Liebevoll war in dem »Tabu«- Film , den Flo jetzt sah, dargestellt, wie sie in den folgenden Tagen begannen, fieberhaft den skelettartigen Grundgedanken zu
einem Drehbuch auszuarbeiten. Es war zu sehen, wie sie an jeder Szene, jeder Dialogzeile feilten, während sich langsam der
Winter um sie herum auf die Stadt legte. Manchmal schrieben sie zusammen, einer über den Computer gebeugt, der andere hinter
ihm auf und ab laufend. Manchmal schrieben sie, jeder für sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Wenn sie dann mitten in der
Nacht aufeinandertrafen, ausgehöhlt vom unerbittlichen Wühlen in den eigenen Hirnwindungen und mit brennenden Lungen von viel
zu vielen Zigaretten, gingensie meist noch ein Bier trinken, um gemeinsam an dem Stoff weiterzubasteln. Bis sie schließlich einen Weg fanden, die innere
Zerrissenheit ihres Helden in einem großartigen filmischen Monolog darzustellen, der darin gipfelte, dass er sich selbst als
Schuldigen erkannte. Diesen Monolog konzipierten sie als Bewusstseinsstrom eines Mannes, dessen Erinnerung sich unter seinem
Blick nach innen gleichsam zu deformieren scheint, als Bewusstseinsstrom eines Mannes also, der das Gefühl hat, dass sich
seine Persönlichkeit umso mehr verflüchtigt, je länger er versucht, sie zu ergründen. Der glaubt, miterleben zu müssen, wie
sich seine Identität, seine Seele, sein Selbst, sein Ich langsam auflösen und verflüssigen, während er verzweifelt versucht,
sie zu fixieren.
Es war fast Weihnachten, als der David im Film – gerade so, wie es der echte David getan hatte, wie Flo noch sehr wohl wusste –, als David das Skript unter dem Titel »Der Zyklop« an Produzenten, Filmförderungen und Fernsehanstalten verschickte. Er
brannte darauf, es zu Geld zu machen, und war fest davon überzeugt, dass es sich um einen gelungenen Wurf handelte. Dennoch
vergingen Wochen, bis die ersten Antworten eintrafen.
Florian
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