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de profundis

de profundis

Titel: de profundis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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schaltete sich Gleb ein.
    »Danach habe ich mir einen ganz stillen Alkoholiker gesucht. Wir haben ein Jahr ruhig und friedlich zusammengelebt. Nach einem Jahr stirbt er an Krebs.«
    »Leberkrebs«, zwinkerte Gleb. Mit schlanken Fingern nahm er den Sektkelch am Stiel und nippte daran. Boris betrachtete schweigend das Muttermal unter seinem linken Nasenflügel. Sogar die Engländer hatten aufgehört zu singen und herumzuwirbeln, denn das Band war zu Ende.
    »Einfach ein Unglück«, seufzte Marina. »Ich bin buchstäblich umzingelt von den Gräbern meiner Männer. Und zwar von jungen Männern. Insgesamt waren das, ich hab's mal durchgezählt, zwölf Tote.«
    »Zwölf?«, fragte Boris nach.
    »Ja, bis vorigen Monat waren es zwölf.«
    »Und was ist vorigen Monat passiert?«
    »Das wollte ich Ihnen gar nicht erzählen, aber da ich nun mal selbst davon angefangen habe … Wissen Sie, ich habe immer gemeint, dass es nur Männer außerhalb meiner Familie trifft, aber vorigen Monat … Ich war immer so stolz auf meinen jüngeren Bruder: ein gut aussehender, kluger junger Mann, von Beruf Speläologe, na, also, das sind die, die in Höhlen herumkriechen. Im März ist er mit Freunden in den Pamir gefahren, und jetzt wird die ganze Gruppe vermisst. Man hat gesucht und gesucht, und nun gibt es schon keine Hoffnung mehr; offenbar wurden sie von einer Lawine verschüttet. Wenn im Mai der Schnee weggetaut ist, dann wird man sie wohl finden.«
    »Vielmehr das, was von ihnen übrig ist«, fügte Gleb hinzu und sah Boris mit treuem Hundeblick an.
    »Bin gleich wieder da«, sagte Boris, schob akkurat seinen Stuhl zurück und verließ leisen Schrittes den Raum. In der Toilette wusch er sich sorgfältig mit Seife die Hände und blieb vor dem Spiegel stehen.
    »Scheiße, Scheiße, Scheiße«, murmelte er schnell und bekreuzigte sich ungeschickt und flüchtig. Von der Toilette gelangte er zur Garderobe, steckte dem Garderobenmann einen Rubel zu und rannte, seinen Regenmantel im Arm, zum Auto. Bis nach Moskau waren es sechsundzwanzig Kilometer.
    Boris überlebte damals, obwohl er beinahe an einer üblen Pilzvergiftung gestorben wäre.

Serie
    1. Irgendwann einmal (heute schwer zu glauben) umgaben sie dichte, undurchdringliche Wälder. Eine sumpfige Gegend, im Überfluss wachsen die Ulmen, aber gleich daneben gibt es einen Hügel, und was für einen: Die Geografen bezeichnen ihn als den höchsten der Mittelrussischen Platte. Hier müsste eine Grenzstadt sein! An der Errichtung der Festung waren die berühmten Baumeister Antip und Miron beteiligt. Von einem unterirdischen Gang führte eine Wendeltreppe nach oben, die vier Wehrgänge miteinander verband. Der untere bestand aus Blendennischen mit Schießscharten. Die sechs Meter dicke Mauer begeistert bis heute durch ihre Festigkeit, feuererprobt in Zeiten der Not – auch faschistischer Sprengstoff kann dem Monolithen nichts anhaben. Gestern überreichte mir der Präsident den Stern des Helden. Habe ihn angenommen, wenn auch widerwillig, wollte ihn nicht kränken.
    2. Einen großartigen Hintergrund für dieses Denkmal historischer Architektur stellt das Ufergrün dar. Die Seitenfassaden des quadratischen Baukörpers sind durch Pilaster in drei Abschnitte gegliedert, auf deren Grundpfeiler sich fünf »taube« Sakomare stützen. Tanja hat Geburtstag. Sie wird 35 (sie verheimlicht das). Oberhalb der Sakomare verläuft ein Reliefband kielförmiger Kokoschniks. Mit einem solchen Kokoschnik ist auch die Trommel unterhalb der Kuppel an ihrer Basis verziert.
    Das Hauptmotiv des Schnitzwerks sind Weinreben und stilisierte Blumen.
    3. Das still dahinfließende Flüsschen trägt seine Wasser an der alten Stadt vorbei wie schon vor vielen hundert Jahren. Der patriotische. Regierungsauftrag an mich: zum Zeichen des Sieges über das Chaos ein »Objekt« mit Schokolade zu bearbeiten. Man hatte einen deutschen Fotografen engagiert. Wir stiegen im Hotel »Jubilejnaja« ab. Der Überfluss an Kokoschniks, kleinen Stufenbögen, paarweisen Halbsäulchen und Ziergiebelchen verleiht dem Gebäude ein außerordentlich schmuckes, festliches und einprägsames Aussehen. Das Hotel verfügt über eine ausgezeichnete Akustik.
    4. Die Barockkirche, interessant wegen ihrer Fresken aus dem 18. Jahrhundert, kennt man heute außerdem als das Gebäude, in dem Tanja als leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin beschäftigt ist. Auf ihre Initiative hin wurde an einer der Museumsmauern eine bronzene Gedenktafel angebracht, die von

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