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de profundis

de profundis

Titel: de profundis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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Zeiten, erfreuen Sie sich der blühenden Jugend. Ich sehe, dass ihn Tatjanas »du« ein wenig wurmt, doch er findet sich demütig mit der Kränkung ab.
    15. Tanja ist quer über den Hauptplatz ins Museum verschwunden. Ob sie zurückkommt? Guido bestellt Suppe. Der Fahrer Maxim isst alles, was ihm unter die Finger kommt, und singt Lobeshymnen auf Deutschland. Ich habe keine Kraft, ihm zuzuhören. Ich springe auf, gehe ins Museum. Sie trinkt Tee mit ihren Kolleginnen. In einer Ecke steht das funkelnde Modell eines Sputniks. »Ein paar Schüler haben ihn für eine Schnapsbrennerei Marke Eigenbau gehalten«, lacht Tanja. Ich lache laut und aufrichtig, obwohl ich diesen Witz schon kenne.
    16. Um neun Uhr früh wurde im Bezirk Kuwschinowo noch gekämpft, und zur Mittagszeit versammelten sich die Kämpfer und Bewohner zu einem Meeting, das der Befreiung der ruhmreichen russischen Stadt gewidmet war. »Nach dem Großen Vaterländischen Krieg wurde die Stadt völlig neu wiederaufgebaut, neue Menschen siedelten sich an: Russen, Ukrainer, Weißrussen, Juden. Ungeachtet dessen, dass etwa 170000 Familien auf den Wartelisten für eine Wohnung standen, nahm die Stadt 1991-1992 ungefähr 6000 Menschen aus Gebieten auf, die durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in Mitleidenschaft gezogen waren.« (Originalzitat belorussisch.)
    17. Der Deutsche war platt. Tanja zog eine Flasche aus dem Rockbund und stellte sie entschlossen auf den Tisch. »Auf meinen Geburtstag!«
    18. »Liebe Tanja! Das Wetter ist für Außenaufnahmen nicht besonders günstig. Sollten wir nicht lieber wieder zu Golub gehen, um die hiesige Intelligenzija beim schöpferischen Prozess zu fotografieren?«
    19. Drei Grabsteine – drei Lebensläufe. Dem Preisträger verdanken wir das Monument »Dem Befreier«, die gigantische Gedenkstätte in Wolgograd sowie das allseits bekannte Lied »Weiter Himmel«. Doch das erste Denkmal, das der Heldentat des Volkes gewidmet ist, wird Tanjas Denkmal sein, und ich (der kluge Stratege, listige Taktiker, tollkühne Kommandeur) werde bescheiden daneben stehen.
    20. Golub empfing uns wie gute Freunde. Ich sagte: »Könnte man nicht Ihr Modell herbestellen? Für einen guten Zweck?« – »Was denn, Lenka?« – »Ja, Lenka.« – »Die ist gar nicht da.« – »Wir brauchen ein Modell. Sonst platzt die ganze Sache.« – »Verstehe.« – »Das ist sehr wichtig«, betonte ich. Golubs Blick wurde unruhig. Ich hielt den Atem an. Golubs Blick ging in die richtige Richtung. »Tatjana!«, rief er entzückt. »Könntest du nicht Lenka ersetzen?« – »In der Tat«, bemerkte ich bescheiden. »Eine gute Idee.« Tatjana maß uns mit einem Blick, als seien wir verrückt geworden. »Was ist denn schon dabei?«, sagte ich. »In Europa gehen die Leute längst alle nackt baden.« – »Weiß ich«, sagte Tatjana. »Aber wir sind nicht in Europa. Auf gar keinen Fall. Wie können Sie an so was überhaupt denken?« Golub, ganz begeistert, versuchte sie zu überreden. Er sprach vom Familienbesitz der Gribojedows, vom Manöverleiter J. M. Larionow, auf dessen Konto mehrere Zugunglücke gingen, schließlich von der Dampflok ESch-4290, welche seit dem 9. Mai 1980 auf einem Postament neben dem Bahnhof stand. »Eine Dampflok kann da stehen und du nicht? Schämst du dich denn gar nicht?« – »ESch-4290? Ist das die mit den roten Rädern?« – »Ja! Genau! Die mit den roten Rädern!«, rief Golub ärgerlich. Tanja biss sich auf die Lippe. »Hast du ein sauberes Laken?«
    21. Auf das Podest wurde ein grellgrünes Sofa gehievt. Tanja kam in das Laken gehüllt heraus, ihre Achselhöhlen verbreiteten Aufgeregtheit. »Gebt mir einen Wodka.« Ich rannte auf den Hof, rüttelte Maxim wach. Eingeschnappt brauste er davon, um Wodka zu beschaffen. Fünf Minuten später war ich wieder im Atelier, mit Wodka und einem Rucksack voller Schokolade. Ich lehnte den Rucksack unbemerkt an die Heizung. Guido hatte schon sein Stativ aufgestellt und war bereit. Nicht umsonst hatte er sechs Jahre für den deutschen »Playboy« gearbeitet. Tanja kippte ein halbes Glas hinunter, nahm die Brille mit dem hellblauen Plastikgestell ab, aber im letzten Moment weigerte sie sich, das Laken fallen zu lassen. »Das mache ich nicht kostenlos.« Das Honorar in Höhe eines Monatsgehalts, das ich bot, zerstreute ihre letzten Zweifel.
    22. Als sie aufs Sofa geklettert war und mir das Laken übergeworfen hatte, entrang sich mir ein »Ach!«: Sie war es. Genau die, die ich brauchte. Golub, der

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