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de profundis

de profundis

Titel: de profundis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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der Redakteur Anatoli Alexejewitsch Golowatsch lächelnd. »Denn nichts wird so leicht weggegeben wie das, was man umsonst gekriegt hat.«
    10. 1200 Häuser, 400 Geschäfte, 20 Ateliers niedergebrannt, Gotteshäuser zerstört und entweiht. Es schien, die Stadt würde nie wieder auf die Beine kommen. Doch sie vollbrachte zum wiederholten Mal eine Heldentat. Gerbereien liefern Juchtenleder, Chromleder, anständiges Material für Kleidung, Schuhwerk und Pferdegeschirr. Lebkuchenbäckereien stellen Konditorwaren erlesensten Geschmacks her, und die Abgesandten des englischen Königshauses müssen nicht geringe Anstrengung aufwenden, um die Lebkuchenlieferungen auch auf die Britischen Inseln zu schaffen. Demnächst erscheint eine Neuauflage von Friedrich Nesnanskis Trilogie »Jahrmarkt in Sokolniki« – »Operation Faust« – »Die Büchse der Pandora« in einem dem klassischen »Taschenbuch« ähnlichen Format sowie die Reihe »Russische Thriller« und außerdem alle drei Bücher über Nimmerklug und seine Freunde.
    11. Viktor Golub ist nicht nur ein origineller Maler und Grafiker, sondern auch ein sensibles dichterisches Naturtalent:
    »… Hohe Orden sind mir gleich, Und Träume von Eroberungen Machen mich nicht weich! Doch wenn der Feind entsetzlich Sich uns entgegenstellt, Ist meine erste heil'ge Pflicht: Die Heimat verteidigen als Held.«
    Wir klopften lange an die Tür seines Ateliers, das sich auf dem Hof gegenüber der Zeitungsredaktion befindet, wo man uns sagte, dass das Problem der Straßenumbenennung im Prinzip gelöst sei, die Umsetzung sich jedoch in Ermangelung von Schildern auf unbestimmte Zeit verschiebe. Tatjana Nikolajewna trat schließlich mit ihrem schwarzen Stiefel kräftig gegen die Tür, und Golub erschien vor uns in all seiner morgendlichen Pracht. Wir schlossen umgehend Freundschaft.
    12. Meine geheime Idee nimmt allmählich reale Formen an. Viktor machte sich unverzüglich daran, uns seine Arbeiten der verschiedensten Stilrichtungen zu zeigen: Abstraktes, Surrealistisches, Pop-Art, symbolische Gemälde mit Titeln wie »Habsucht«, »Arglist«, »Der Dogmatiker« sowie auch eine Reihe von Stadtlandschaften, von denen Guido eine (auf meine vorsichtige Bitte hin) gegen 60 Dollar für seine Privatsammlung in München käuflich erwarb (die hauptsächlich aus Teeservices der Revolutionsperiode bestand). Es war eine bescheidene Arbeit: ein Holzzaun, Disteln, ein sumpfiges Flüsschen – doch man konnte nur schwer den Blick davon lösen. Viktor hatte auch einige Akte zu bieten, alle von demselben Modell, was meiner Aufmerksamkeit nicht entging. Tatjana Nikolajewna beginne ich bereits Tanja zu nennen.
    13. Guido mit seinem kurz geschnittenen silbergrauen Haar ist von der Regierung der BRD zu meiner Unterstützung abkommandiert, aber ich sehe, dass er deprimiert ist – sowohl wegen der Schandtaten seiner Landsleute als auch wegen des Wetters (es schneite). »Was hatten die eigentlich hier zu suchen?«, murmelt er, während er seine erstarrten Finger anhaucht, um sie wieder aufzutauen (Tanja klettert mit uns und dem rothaarigen Pater Daniil auf den Glockenturm). »Schneesturm im September. Hitler war ein Idiot.«
    14. Der Priester Schura, Pater Daniil, hat mit Tanja nicht nur dieselbe Schulbank gedrückt und dasselbe pädagogische Institut besucht. Die Gedenkstätte befindet sich auf dem städtischen Katharinen-Friedhof. Ein geheiligter Ort für die Einwohner der Stadt und ihre Besucher: Hier sind die Kämpfer der Revolution und des Bürgerkriegs begraben, die im Großen Vaterländischen Krieg Gefallenen, die Menschen, die in Friedenszeiten Heldentaten vollbracht haben, die Opfer der polnisch-litauischen Feudalherren. Legenden weben sich um die Lehrerin und Komsomolzin Alexandra Baranowa. Sie klebte jeden Tag aufs Neue Flugblätter mit sowjetischen Liedtexten an die Hauswände. Der Feind schnappte die Patriotin; zu ihrer Hinrichtung ging sie mit dem Lied auf den Lippen:
    »Tragt über den Erdball,
    tragt über die Meere
    die Fahne der Arbeitermacht!«
    Der Ort für den Glockenturm war bestens gewählt – auf dem westlich über der Stadt sich erhebenden Hügel –, doch das Fotografieren der Stadt will nicht gelingen. Es schneit heftig. Tanja ist verdrossen. Auch ich bemühe mich, enttäuscht auszusehen. Priester Schura lädt auf ein Gläschen Kirchwein ein. Seien Sie seine Gäste! Er lädt Sie ein auf die Straßen und Plätze, in die schattigen Alleen der Parks. Öffnen Sie Ihr Herz für die alten

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