Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
de profundis

de profundis

Titel: de profundis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
Vom Netzwerk:
flüsterte Marina leise. Er nahm sie bei der Hand. Sie flogen.
    »Dass Sie schön sind, ist ja halb so schlimm«, sagte Boris, der auf einem Baumstamm direkt am Wasser saß und sich eine ansteckte. »Aber dass Sie auch noch Verstand, Phantasie und ohne Zweifel Talent haben …«
    »Es ist frisch.« Gleb zog fröstelnd die Schultern hoch und stand auf. »Bin ich hinten schmutzig?«
    »Sie sind sauber von allen Seiten und von innen auch«, versicherte Boris eifrig.
    »Was sind Sie doch für ein Dummkopf!«, sagte Marina fröhlich und lief rasch auf dem Pfad voraus. Boris rannte ihr Hals über Kopf nach.
    »Marina, darf ich Sie küssen?«
    »Nein«, antwortete das Mädchen streng.
    »Ach bitte, nur auf die Wange …«
    »Nein.« Sie war unerbittlich.
    »Na, dann«, sagte Boris drohend, »werfe ich mich Ihnen zu Füßen.«
    »Das ist Ihr gutes Recht«, spottete Gleb. Boris kniete sich in den Frühjahrsmatsch und umfasste mit beiden Händen die nicht mehr neuen Damenstiefel. Sie blickte von oben auf ihn herab, wollte etwas sagen, doch plötzlich fuhr der Wind in ihre schwarzen Haare, und sie klebten ihr in den Augen, dem Mund, im ganzen Gesicht.
    Boris erhob sich als vollkommen neuer Mensch.
    »Und jetzt gehen wir in ein Restaurant«, sagte er.
    Sie betraten mit solchem Aplomb eine gähnend leere Pizzeria, dass der Oberkellner sogleich extra für sie das Videogerät einschaltete. Über die Mattscheibe flimmerten irgendwelche Unterhaltungsshowmonster mit rosa Haaren.
    »Zweimal Pizza mit Pilzen!«, verkündete Boris dem Kellner seine Wahl. »Und eine Flasche Sekt!«
    »Pilze haben wir nicht, glaube ich«, sagte der Kellner unsicher.
    »Sollten Sie aber!«, sagte Boris überzeugt und blickte dem Kellner in die Augen. Der entschwebte in die Küche. Eine Minute später kam er mit froher Botschaft zurück.
    »Theoretisch«, sagte Boris, an Marina gewandt, »könnten diese Schreihälse mit den rosa Haaren unsere Kinder sein.«
    »Ich bin vierunddreißig«, sagte Marina und senkte den Blick.
    »Nein, dann haut das wohl nicht hin«, überschlug Boris und lachte. »Wie herrlich, mit einer schönen Frau bei Schummerbeleuchtung zusammenzusitzen und Sekt zu trinken, während das ganze Land im Schweiße seines Angesichts malocht.«
    »Im Schweiße seines Angesichts, dass ich nicht kichere!«, bezweifelte Gleb und lachte.
    »Eine Metapher!«, erklärte Boris, sich kugelnd vor Lachen.
    »Sagen Sie«, tat Gleb ernsthaft, »was ich Sie schon lange fragen wollte: Was meinen Sie, sind alle Menschen gleich oder nicht?«
    »Natürlich nicht«, rief Boris enthusiastisch. »Wie könnten sie auch? Aber der Punkt ist folgender. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Man muss so tun, als seien sie gleich. Das ist das Wesen der Zivilisation.«
    »Toll …«, sagte Marina entzückt. »Darüber würde ich gern einen Essay schreiben. Haben Sie keine Angst, Sekt zu trinken, wenn Sie mit dem Auto unterwegs sind?«
    »Ich habe vor nichts Angst«, antwortete Boris ernst, während er mit seinem stumpfen Messer die Pizza zerteilte. Auch Gleb war mit seiner Pizza beschäftigt. Die jungen Engländer und Engländerinnen hüpften keck über den kleinen Bildschirm.
    »Gut machen sie das. Das hat Qualität«, sagte Boris anerkennend. »Waren Sie noch nie verheiratet?«
    »Nein, aber ich habe mit einem Mann zusammengelebt …«
    »Und?«
    »Eines Tages ging er Brot holen und kam nicht zurück. Man hat ihn in unserem Treppenhaus erstochen.«
    »Wer?«, fragte Boris mit weit aufgerissenen Augen.
    »Er wurde nie geschnappt. Bis heute weiß man nicht, wer es getan hat und warum. Fünfzehn Messerstiche. Der Untersuchungsrichter hat sogar mich verdächtigt. Er war richtig sauer, dass ich nicht meine Selbstbeherrschung verloren habe. Markieren Sie nicht die spanische Königin! Das hat er aufgebracht zu mir gesagt. Aber ich habe viel zu schwache Hände. Kann man etwa mit diesen Händen jemandem fünfzehn Messerstiche zufügen?«
    »Nein!«, rief Boris.
    »Das Ganze endete damit, dass er mir erst irgendwelche Akten zu einem Fall von Vergewaltigungen kleiner Mädchen zuschieben wollte und mir dann plötzlich eine Liebeserklärung gemacht hat.«
    »Ich kann mir vorstellen, was Sie durchgestanden haben!«, sagte Boris deprimiert.
    »Überhaupt habe ich kein Glück«, fuhr Marina fort. »Nach dem Mord im Treppenhaus verging eine gewisse Zeit, und ich zog mit einem anderen Mann zusammen. Er kam bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.«
    »Ein Flügel ist in der Luft abgebrochen«,

Weitere Kostenlose Bücher