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de profundis

de profundis

Titel: de profundis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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der grausamen Schlacht zwischen der russischen Armee und den französischen Truppen kündet, welche nicht weit von diesem Gotteshaus entfernt stattfand. Der Feind hatte, obwohl zahlenmäßig in der Übermacht, dem Druck des russischen Geistes und der russischen Waffen nicht standhalten können.
    5. Was weiß ich über Tatjana Nikolajewna? Sie ist verheiratet, trägt eine Brille. Wir unterhalten uns mit der Direktorin des Museums (T. N. verspätet sich), die uns großzügig mit quadratischen Anstecknadeln zum Stadtjubiläum beschenkt.
    6. Es spricht der aktive Teilnehmer am Krieg von 1812, der Dichter F. N. Glinka: »An die ruhmreichen Heldentaten der russischen Soldaten, an die Selbstaufopferung der Stadtbewohner erinnert das Denkmal für die Helden des Jahres 1812, das zum hundertsten Jahrestag des Krieges enthüllt wurde: Als uneinnehmbarer Fels mit dem doppelköpfigen Adler an der Spitze ist Russland erstanden, der stolze Vogel zaust die Standarte der besiegten französischen Armee.« Unhörbar kommt Tatjana Nikolajewna herein. Die Mitarbeiterinnen gratulieren ihr alle durcheinander zum Geburtstag, F. N. Glinka schenkt ihr Blumen. Auch Guido und ich gehen zu ihr, gratulieren, stellen uns vor.
    7. »Zu welchem Lager gehören Sie?«, fragt uns unsere heutige Reiseleiterin Tatjana Nikolajewna (10.30 Uhr). »Wie soll ich erzählen?« – »Erzählen Sie, als sprächen Sie mit sich selbst«, sagte ich herzlich. »Na gut, fangen wir an«, sagt sie, während sie auf den Hauptplatz hinaustritt. In das Geschichtsbuch der Oktobertage ist auch eine Seite eingegangen, die vom Glauben an die Gerechtigkeit der Leninschen Sache und von der Tapferkeit der hiesigen Bolschewiki geschrieben wurde, welche Letztere an der Bahnstation 40 weißgardistische Gefechtsstaffeln stellten und entwaffneten, die sich zur Unterdrückung der Revolution auf dem Weg nach Moskau und Petrograd befanden. Der junge Fahrer Maxim isst eine Tafel strategisch wichtiger Schokolade, während er Tatjana Nikolajewna zuhört. Er leidet die ganze Reise über an chronischer Fresslust; er isst, was ihm unter die Finger kommt. »Gehen Sie zum Wagen zurück, bevor er geklaut wird«, flüstere ich ihm sanft lächelnd zu, »und hören Sie bitte auf, ständig Schokolade zu essen.« Beleidigt zieht er ab. Das gute Wort des Führers der Revolution wird vielen Generationen werktätiger Massen den Weg in eine lichte Zukunft weisen.
    8. »Was soll das, bist du extra hergekommen, um unsere Armut zu fotografieren?«, fragt missmutig eine Marktfrau, die Speiseöl verkauft. »Fotografier dich doch selber, kapiert?« Die Schlange von Frauen mit mittelalterlichen Gesichtern sieht aus, als sei sie für eine Massenszene zusammengetrommelt, und murrt ebenfalls drohend in unsere Richtung. Tatjana Nikolajewna kommt uns zu Hilfe. »Ruhe, Frau …!«, sagt sie in überraschend gebieterischem Ton. »Er fotografiert, was er für nötig befindet.« Der gebieterische Ton Tatjana Nikolajewnas macht alle verlegen, wir gehen weiter. Ungeachtet des goldenen Herbstes haben die Männer ihre Ohrenklappenmützen aufgesetzt, bereit für den Kälteeinbruch.
    9. Eine Gedenkstätte, errichtet zu Ehren der Volksabwehr. Ein Panzergraben, Balkensperren, ein Feuernest, eine in Kupfer gegossene Soldatenfigur. Jeder von ihnen erinnert sich an die Worte des Divisionskommandeurs Saikin, der, als die Division vor dem Aufbruch an die Front das Kriegsbanner überreicht bekam, zu ihnen sagte: »Der Landwehrmann sollte immer daran denken, dass in der Schlacht über ihm das Allerheiligste flattert – unser rotes Banner.« – »So, und wohin jetzt?« Zehntausende von österreichischen Glasbehältern für hochwertiges Kaffeegranulat lagen um den Wagen und im Sumpf verstreut. Zuerst begannen die Leute still und leise wie nebenbei die Gläser aufzusammeln, die sich am Wegesrand fanden. Dann aber bekamen sie Geschmack daran, und einige kletterten auf die Sumpfbülten. Den Kaffee klaubten sie mit den Händen heraus, sammelten ihn in Plastikbeuteln. Besonders eifrige Frauen zogen Schuhe und Röcke aus und stiegen auf Strümpfen in die kalte sumpfige Pampe, ohne Angst, sich Schnittwunden an den Füßen zu holen. Aber wie es so schön heißt, ein Unglück kommt selten allein. Gestern wurde Valeri Soljanik, der beste Torjäger der 3. Staffel der 2. Liga, wegen Tätlichkeit vom Platz gestellt. Und schon heute erfolgte das harte Urteil: gesperrt für 5 Spiele. »Wenn Sie den Kaffee auf dem Markt sehen, dann handeln Sie«, sagt

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