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de profundis

de profundis

Titel: de profundis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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Denken und Herkunft, vom Kummer zerstört war. In den Armen hielt sie ein großes, in eine graue Wolldecke gewickeltes Bündel. Ich wiederhole, dass ich sie nicht bemerkte, das heißt, ich bemerkte sie erst, als ein Windstoß ihr einen Zipfel der Wolldecke aus der Hand riss, und dieser Zipfel, der irgendwie unglaublich lang war, mein Gesicht bedeckte, genauer gesagt, durch den Wind an meinem Gesicht klebte wie ein Kleid an den Beinen. Ich fuhr überrascht zusammen. Ungeduldig riss ich mir das Ende der Wolldecke vom Gesicht, und da sah ich diese mondgesichtige Frau, die mit der Wolldecke kämpfte, um das aufgedeckte und ihr beinahe aus den Armen gefallene Mädchen wieder einzuhüllen.
    Das wie durch ein Wunder in den Armen der Mutter verbliebene Mädchen sah überhaupt nicht aus wie die im Schaufenster ausgestellte Werbepuppe. Kurz waren dunkle verfilzte und sehr dünne Haare zu sehen; das Gesicht war eingefallen und zeigte jenen unguten Farbton, den Hühnchen manchmal haben, wenn sie zu lange auf dem Ladentisch gelegen haben. Die Kleidung des Mädchens war absolut nicht werbewirksam; es trug eine braune Strickjacke mit großen Knöpfen wie von einem Mantel. Ein kraftloser Hals schaute hervor. Ich begriff sofort, dass dies ihr einziges Kind war, das sie – unter Missachtung aller städtischen Gepflogenheiten – mit der Straßenbahn hierher gebracht hatte. Und in genau dem Moment, als ich die an meinem Gesicht klebende Wolldecke wegriss, kam es mir als für alle möglichen Eindrücke empfänglichem Menschen so vor, als verströmte die Wolldecke einen süßlichen Geruch, und überhaupt ist es ja ekelhaft, wenn man wie eine Leiche eine Decke übergeworfen bekommt, so dass ich also in diesem Moment durchaus nicht von Mitleid, sondern von Ekel ergriffen wurde, als ich im Gesicht diese mit dem Tod in Verbindung stehende Wolldecke spürte; ich wollte nichts mit diesem fremden herzzerreißenden Tod zu tun haben, ich wollte nicht! Und diese Wolldecke ließ mich gewaltsam daran teilhaben, und vielleicht sah ich die Kindsmutter sogar missbilligend an, weil sie mir die Decke ins Gesicht geklatscht hatte. Aber sie hatte natürlich nichts davon bemerkt und ging rasch an mir vorbei, obwohl sie heinahe das Mädchen aufs Trottoir hatte fallen lassen, doch ich blieb stehen und wusste alles über sie: über die Mutter und das Mädchen, das unglückliche Hühnchen mit dem nackten Bäuchlein und den nackten Beinchen …
    Über all das dachte ich noch nach, als die Frau bereits verschwunden war. Ich stand da und spürte die grobe Berührung der Wolldecke, und plötzlich gingen mir die Nerven durch, denn ich habe ja ein Kind; und völlig durchnässt, verängstigt, voller Liebe, aus tiefster Seele flehte ich flüsternd:
    »Lieber Gott!«
    Und dann ist die Feuerwarte kaum noch zu sehen. Ich renne, keuche. Wer hatte die irrsinnige Idee mit diesem Geschäft? Was war das für ein findiger Direktor? Wer? Und warum? Wie konnte das jemand wagen? Wer hatte sich das erlaubt? Unsere Stadt hatte sich schon allzu sehr in sämtliche Richtungen ausgebreitet, zu unterschiedliches Volk lebte hier, die Stadtverwaltung wurde bisweilen offenbar nicht mehr damit fertig, da musste ja mal etwas außer Kontrolle geraten. So entsteht Willkür und Eigenmächtigkeit wie dieses Geschäft mit dem Spion: GUCK MAL! Aber vielleicht ist das alles nicht einfach so entstanden, sondern als Experiment, als progressive Geschäftsform, und Geschäfte mit Beerdigungsausstattungen für Kinder tauchen bald auch in anderen Stadtteilen auf, aber wie kann man das mit unseren grundlegenden Lebensprinzipien vereinbaren? Wie lässt sich erklären, dass wir uns einerseits solche Euphemismen ausdenken wie »Büro für rituelle Dienstleistungen« und andererseits – oder habe ich da etwas nicht verstanden?
    Und dann ist die Feuerwarte überhaupt nicht mehr zu sehen. Am Straßenrand fließt eine schwarze Brühe. Wenn man vom Trottoir hinunterspringt, hat man die Schuhe bis zum Rand voll damit. Es waren kaum Leute unterwegs. Sie gingen nicht, sie huschten vorüber. Niemand führte seinen Hund aus, niemand machte einen Spaziergang. Und mir wurde irgendwie klar, dass unsere Stadt keine Spaziergängerstadt ist. Mit seltenen Ausnahmen an Feiertagen gehen die Einwohner unserer Stadt nicht gern spazieren. Und auch ich renne, keuche. Ich beeile mich, bevor noch etwas Schlimmes geschieht, aus diesem Stadtteil herauszukommen, in den mich der verdammte Taxifahrer gebracht hat!
    Und dennoch, warum

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