de profundis
gerade Mode ist. »Manchmal träume ich, dass Marilyn und ich zusammen in der Psychiatrie liegen. Sie ist einmalig. Voll rührend. Alle meine Klamotten sind im Sechziger-Jahre-Stil.«
Sie weiß noch nicht, dass man sie ein Jahr später als Tablettenjunkie in einer Klinik willkommen heißen und sie statt zur Monroe zu einer leicht entflammbaren Toilettenfixerin stecken wird.
»Lisa zieht sich genauso an wie die jungen Leute in London«, näselt Anja stolz.
London hin oder her, der vollbusige Moskauer Teenager trägt grellgrüne knallenge Hosen, auf dem ebenso grellrosa T-Shirt prangt in Glitzerperlen das Wort LOVE. Anja trinkt gern. Lisa auch. Bei Mutter und Tochter färben sich die Wangen erst rosa, dann rot und schließlich glühend rot. Beide sind permanent heiß. Fahrige Handbewegungen am runden Küchentisch.
»Mama hält mich für ein Flittchen, einmal hat sie sogar Nutte zu mir gesagt«, sagt Lisa, als ihre Mutter zum wiederholten Mal mit ihrem Handy aus der Küche stürzt, um zu telefonieren. »Ihr ist es scheißegal, woher ich mein Geld habe, Hauptsache, ich will keins von ihr. Wenn ich ihr Zigaretten kaufe, dann bekomme ich nie das Geld dafür wieder.«
Ich wiege ungläubig den Kopf. Sie klettert in die Wanne, um zu baden. Sie hat Schamhaare von ebensolcher Monroe-Farbe und – o Wunder der Symmetrie! – knallrote, auffällig angeschwollene Lippen.
»Also echt! Ich bin in alle ihre sexuellen Geheimnisse eingeweiht. Wir diskutieren über analen Sex. Und, wie ist sie beim Sex?«
Anja mit ihrer Neigung zu tiefer Nachdenklichkeit, ihren karamasowschen Fragen, Zweifeln an der Richtigkeit ihres Lebensweges, hat ein zwiespältiges Verhältnis zu Moskau, gleichzeitig fürchtet und liebt sie diese Stadt voller unkalkulierbarer Situationen. Sie reist oft nach Paris, das sie beinahe ehrfürchtig liebt; Paris, die ehemals verbotene Frucht, ist für sie das Ideal von Stadt und Kultur. Für Lisa bedeutet Paris lediglich eine von vielen Lebensmöglichkeiten. Lisa hat zu Paris ein für die Mutter beleidigend gleichgültiges Verhältnis.
»Ich kann mir mein Leben ohne Moskau nicht vorstellen«, sagt Lisa und plätschert in der Wanne herum. »Darum gefällt es mir sehr. Für mich ist nicht die Stadt an sich wichtig, sondern die Leute um mich rum. Und weil alle Leute, die ich mag, in Moskau leben, verändert sich für mich die Stadt, je nachdem, was gerade passiert.«
Lisa spricht mit einer Selbstsicherheit, die der begabten Mutter fehlt.
»Ich bin sehr musikalisch, ich schreibe Lieder auf Englisch. Viele werfen mir vor, ich sei nicht patriotisch, aber das stimmt nicht. Ich liebe die besten Seiten von Russland. Aber vom Landleben halte ich gar nichts. Ich bin einfach verwöhnt vom schönen Großstadtleben.«
Lisa mag die Zuckerbäckerhochhäuser mit ihrer Stalin-Gotik, die breiten Prospekte bei der Moskauer Universität. Dort, meint sie, sind »die mystischen Orte von Moskau«.
»Ich fühle mich da sehr entspannt. Da schlägt das Herz von Moskau.«
Anja hat ihr Leben lang die Stalin-Architektur als Vergewaltigung des Menschen durch den Staat abgelehnt, Lisa hingegen empfindet diese Gebäude als die einzige originelle stilistische Besonderheit der Stadt. Die Stalin-Kultur findet sie spannend. Lisa liebt die Moskauer Metro. Sie meint, dass diese unterirdischen Paläste »Moskau definieren«.
»Bei uns zu Hause witzeln wir«, sagt Anja leicht ironisch, »dass Lisa bestimmt die Lieblingsschauspielerin von Stalin gewesen wäre.«
Wenn es jedoch um die Person Stalin geht, wird Lisa für einen Moment ernst.
»Ich will keinen Kommentar zu ihm abgeben. Eine widersprüchliche Persönlichkeit, die ich nicht gut finden kann. Aber alles hat seine guten Seiten. Wenn es Stalin nicht gegeben hätte, dann wäre alles womöglich noch schlimmer gekommen.«
Anja und ich wechseln Blicke, wir verstehen nicht, was noch schlimmer hätte kommen können, als es gewesen ist, aber Lisa ist bereits woanders.
»Ich will mich nicht an Begriffen wie gut und böse festklammern. Für mich ist das Wichtigste, ob du jemandem vertraust oder nicht. Ich finde Hinduismus total interessant. Das ist wohl wegen George Harrison, dass ich diesen Weg eingeschlagen habe, obwohl, natürlich entspreche ich nicht allen Vorschriften, schon deshalb, weil ich keine Asiatin bin. Ich mag vegetarische Restaurants. Ich hoffe, dass ich eines Tages ein harmonischer Mensch sein werde und lerne, andere Menschen richtig einzuschätzen.«
In Moskau läuten an Feiertagen
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