de profundis
sich im Taschenspiegel betrachten und ihre Locken kämmen.«
Natalja Alexejewna richtete unwillkürlich ihre Frisur.
»Meine Tochter hatte ein einmaliges gitterartiges Jungfernhäutchen. Hinter Gittern sitze ich im feuchten Kerker … Ich habe Anna seit ihrem Säuglingsalter mit einer Leica fotografiert, Tag für Tag. Das Jungfernhäutchen einer Märtyrerin. Der Gottesmutter. Wenn Sie wollen, ein vergittertes Jungfernhäutchen«, lachte Natalja Alexejewna. »Was für ein wundervolles Wort: Häutchen. Aber mir gefallt auch: Herzenge.«
»Gott ist nicht nur Ästhet«, bemerkte ich nach kurzem Nachdenken.
Natalja Alexejewna saß mit offenem, plötzlich stark gealtertem Mund im »Puschkin«. Ihre sorgfältig gefärbten Haare standen zu Berge. Eine knallgelbe reife Pampelmuse traf direkt ihre Stirn. Die Fürstin verkohlte auf der Stelle.
Mütter und Töchter
Irgendwann in Kalkutta wunderte ich mich über das Fehlen nächtlicher Notarztsirenen. In Moskau wundert man sich über das Fehlen schwangerer Frauen. Hier gibt es alles im Überfluss; die russische Hauptstadt ähnelt einem Vielfraß, der wahllos alles verschlingt, in großen Happen, ohne lange zu kauen, gierig, gedankenlos, vielleicht, weil er früher so hungrig war, vielleicht auch, weil er sich einer satten Zukunft nicht sicher ist. Aber wird dieser Vielfraß Kinder haben?
Man könnte glauben, die Schwangeren würden sich in ihren Wohnungen vor fremden Blicken verstecken, es sei peinlich, unmodern oder kriminell, in Moskau Kinder zu bekommen. Seltsam, Kinder begegnen einem in Moskau schon hier und da, sie werden in schnittigen Kinderwagen um den Teich am Neuen Jungfrauenkloster spazieren gefahren, aber schwangere Frauen sind wie vom Erdboden verschluckt. Und wenn man mal einer Schwangeren in einem Geschäft oder auf der Straße begegnet, starrt man unwillkürlich ihren runden Bauch an. »Was ist denn mit der los? Die traut sich aber was!« Als handle es sich um eine Heldentat. Im sowjetischen Moskau gab es weit mehr schwangere Frauen, Schwangerschaft wurde nicht direkt propagiert, war aber ein fester Bestandteil des Lebens. In den Frauenberatungsstellen hingen Plakate, die detailliert, mit typisch sowjetischer Schwäche für physiologische Prozesse, Fragen der Hygiene während der Schwangerschaft behandelten – für zeitlose, dauergewellte und dickbeinige Frauen. Schwangerschaften kamen häufig vor, ungeachtet dessen, dass Windeln und Kinderkleidung nur schwer zu bekommen waren. Jeden Tag fuhr ich in aller Herrgottsfrühe mit der Straßenbahn auf den Leninski-Prospekt zu einer speziellen Ausgabestelle von Babynahrung, um nach ewigem Schlangestehen Kefir für meinen einjährigen Sohn zu bekommen. Ich gab leere Flaschen ab und bekam dafür neue volle Flaschen.
»Wenn heutzutage eine junge Frau schwanger wird, dann ist das meistens ungewollt«, sagt Anja spöttisch.
Ich blicke zu ihrer Tochter hinüber. Lisa nickt.
»Ich bin vierzig! Vierzig! Wer braucht mich noch?«, hämmert es im Kopf von Lisas Mutter. »Es gab eine Zeit, da galt ich zu Recht als schönste Künstlerin Moskaus!«
Vor sechzehn Jahren bekam Anja in der Geburtsklinik Nr. 25 in der Fotijewa-Straße, zu der man nur über Beziehungen Zutritt erhielt, ihre Tochter Lisa. Das war im Jahr 1988; die Intelligenzija war wie betrunken von den neuen Freiheiten, jeder Tag brachte frohe Kunde vom Schrumpfprozess des Totalitarismus. In jenem Jahr erschien die erste russische Ausgabe von Nabokovs »Lolita« mit einem Vorwort von mir. Ich lernte Anja vor zehn Jahren auf einer Vernissage kennen. Sie bat mich mit tiefer beschwipster Stimme um Feuer. Eine freche Locke fiel ihr in die hohe Stirn.
»Lisa ist ein Perestroika-Kind«, sagt Anja, die bei mir zu Hause in der Küche sitzt. »Gleich nach der Geburt habe ich gesehen, dass ich ein perfektes Baby zur Welt gebracht habe, ein Super-Baby, ein Kind, wie von Raffael gemalt.«
Lisa trinkt Rotwein. Funkelnde Augen, die manchmal etwas kokett blinzeln. Gierig zieht sie an ihrer Zigarette. Lisa hat einen roten Mund. Sie raucht am liebsten die roten Marlboro.
»Hättest du gedacht, dass sie eines Tages wie Marilyn Monroe aussehen wird?«
»Ich war mir sicher, dass es ein multikulturelles Kind wird.«
In dieser Hinsicht lag die Mutter nicht daneben. Lisa hat sich dermaßen gestylt, dass sie aussieht wie eine geklonte Monroe in jungen Jahren.
»Alles eine Frage des Unterbewusstseins, des früheren Lebens«, erklärt Lisa. Sie nuschelt, wie es unter Jugendlichen
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