Dead Souls: Horror (German Edition)
damit der scharfe Geruch hinausströmte. Elizabeth und Daniel schlurften hinter dem lang gestreckten Schatten ihrer Mutter her, Kopf leicht geneigt, Hände zum Gebet gefaltet.
Beim nächsten Glockenläuten betrat Benjamin das letzte Schlafzimmer auf der linken Seite, alle anderen liefen ihm hinterher. Der Holzboden senkte sich unter ihren Schritten, das Aroma des Sandelholzes aus dem Weihrauchgefäß erfüllte augenblicklich die Luft. Das Zimmer war schlicht, nur mit den notwendigsten Bestandteilen ausgestattet: Der gemalte Kreis; die Pentagramme, nicht angezündete Kerzen an ihren Ecken; das Dreieck und die dazugehörigen Hexagramme. Die Rollläden waren zugezogen und hüllten das Zimmer in einladende Dunkelheit.
Unter dem einzigen Fenster stand ein Kinderbett aus Holz. Darin lag Bryan Conroy friedlich auf einer weißen Matratze, seine winzige Brust bewegte sich langsam auf und ab, er war nackt, wie an dem Tag, als er geboren wurde.
Benjamin ging auf das Kinderbett zu und schaute hinein. Er sprach das einleitende Gebet zu Osiris und fügte gleich danach hinzu: »Es ist Zeit für dich, Bryan Conroy, sich uns bei unserer Suche nach dem ewigen Leben im Jenseits anzuschließen. Wie Jesus einst von den Toten auferstanden ist, um den Leuten von Jerusalem sein Wunder zu verkünden, und dann in den Himmel aufgestiegen ist, um zur Rechten Gottes zu sitzen, so sollen wir für immer zusammenleben, über die Grenzen unserer Gräber hinaus. Nach dem Tod unserer körperlichen Existenz sollen unsere Seelen von der Hand Osiris’ zusammengetragen werden und ihnen das ewige Leben nach dem Tod gewährt werden, wo wir unendlich gedeihen werden, an Liebe und Verpflichtung gebunden.«
Die Glocken läuteten. Benjamin wartete, bis der Nachklang verstummte, dann lehnte er sich über das Kinderbett und hob das Baby heraus. Als er seinen Sohn so dicht bei sich hielt, spürte er, wie eine Welle der Euphorie über seinen Körper hereinbrach. Die Zeit – Bryans Zeit – war endlich gekommen.
Benjamin drehte sich um und wandte sich seiner Familie zu. Er streckte das nackte Baby wie eine Opfergabe von sich und sagte: »Hier, an seinem ersten Geburtstag, wird der Letzte der Conroys seine Treue gegenüber Osiris schwören und um das Geschenk des Lebens nach dem Tod bitten.«
»Gelobt sei der Herr Osiris«, wiederholte die Familie gemeinsam.
Benjamin fragte seine Frau, monoton singend: »Entscheidest du, Faith Conroy, dich dafür, dein Geschenk des Lebens nach dem Tod mit Bryan Conroy zu teilen?«
Faith nickte und legte ihre Narbe frei. »Ja«, antwortete sie im gleichen Ton.
»Entscheidest du, Elizabeth Conroy, dich dafür, dein Geschenk des Lebens nach dem Tod mit Bryan Conroy zu teilen?«
Auch sie zeigte ihre Narbe. »Ja.«
»Entscheidest du, Daniel Conroy, dich dafür, dein Geschenk des Lebens nach dem Tod mit Bryan Conroy zu teilen?«
Daniel zögerte und handelte sich damit einen besorgten Blick seines Vaters ein. Er trat unruhig auf der Stelle, Augen auf den Boden gerichtet, dann öffnete er sein Gewand und antwortete: »Ja.« Sein Ton war leicht daneben.
Die Glocken läuteten. Benjamin wartete still, die Augen im Gebet geschlossen, die Lippen zitterten, als das Baby anfing sich zu bewegen. Der Hall der Glocken verstummte. 13 Sekunden vergingen, und statt einer weiteren
Glocke dominierte Stille, als hätte ein Schalldämpfer das ganze Haus umhüllt.
Benjamin lächelte augenblicklich. Die erste Hälfte des Rituals war perfekt gelaufen: Genau eine Stunde und 33 Minuten waren verstrichen, seit er sich vom Bett erhoben hatte, um Bryans Treue zu Osiris einzuleiten. Und jetzt stand er hier. Seine Familie stand bei diesem Ritual an der richtigen Stelle. Monatelang hatte er es sorgfältig vorbereitet.
»Osiris ist jetzt bei uns«, sagte er schließlich. »Jesus war bei uns, seit wir dem Licht der Erde unsere Augen geöffnet haben. Der Herr Osiris und der Herr Jesus Christus werden jetzt zusammenarbeiten, um uns das Wunder des ewigen Zusammenseins zu sichern, jetzt und über das Ausmaß unseres gegenwärtigen Lebens hinaus.«
Als Benjamin auf seinen kleinen Sohn herabschaute, sah er, dass Bryans Augen aufgerissen und munter waren. Er schaute zu seinem Vater auf. Mit einem Lächeln.
Und die Conroy-Familie wiederholte gemeinsam: »Amen.«
Kapitel 10
06. September 2005
17:48 Uhr
Mary Petrie betrat das Appartement, sie bemerkte nicht einmal, dass ihr Sohn mit verschränkten Armen am Küchentisch saß und sie anstarrte. Ihre Schlüssel
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